Berlin. Unzählige Tiere und Pflanzen sind betroffen: Das Ausmaß des Artensterbens hat bedrohliche Züge angenommen. Lässt sich der Verlust noch aufhalten?

Korallenriffe gehören zu den produktivsten Ökosystemen der Erde. Sie bieten einen wertvollen Lebensraum für ein Viertel aller Tiere und Pflanzen im Meer. Und sie helfen uns Menschen, denn sie können Monsterwellen brechen und Küstenbewohner vor schweren Überschwemmungen schützen. Ein Ökosystem ohne Korallenriffe hätte also gravierende Folgen. Doch genau dieses Szenario nimmt immer mehr Gestalt an. Hitzewellen, zerstörerischer Fischfang und Wasserverschmutzung führen dazu, dass deren Bestände weltweit am schnellsten einbrechen. Und nicht nur Korallen sind betroffen: Rund einer Million Tier- und Pflanzenarten droht die Ausrottung. Eine Katastrophe bahnt sich an. Weil sie aber schleichend verläuft, nimmt sie kaum einer wahr. Noch.

Seit 1994 verhandeln die knapp 200 Vertragsstaaten der UN-Konvention, wie sich das Massensterben stoppen lässt. Die letzte sogenannte Weltnaturschutzkonferenz, die insgesamt fünfzehnte (COP15), wurde aufgesplittet: Im Oktober gab es ein virtuelles Auftakttreffen, die Abschlussverhandlungen sollten ursprünglich Ende April im südchinesischen Kunming folgen, wurden aber pandemiebedingt in den Juli verlegt. Eine erster Beschlussentwurf sieht vor: Bis 2030 sollen mindestens 30 Prozent der globalen Landes- und Meeresfläche unter Schutz gestellt und 20 Prozent der bereits zerstörten Ökosysteme renaturiert werden. Bevor die COP15 in die finale Runde geht, treffen sich die Teilnehmerstaaten ab dem 13. März in Genf zu Vorverhandlungen. „Genf entscheidet über den Erfolg der Abschlussverhandlungen“, sagt Florian Titze vom World Wildlife Fund (WWF).

Was sind die Ursachen für das Artensterben?

„Die Geschwindigkeit der globalen Veränderungen der Natur in den letzten 50 Jahren ist beispiellos in der Geschichte der Menschheit“, stellte der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) in einem Bericht von 2019 fest. Demnach sind fünf Faktoren maßgeblich für den Rückgang verantwortlich:

Die Zerstörung von Lebensräumen durch Urbanisierung und landwirtschaftliche Zwecke.

Die Ausbeutung von Ökosystemen, beispielsweise durch Überfischung oder den Bergbau.

Die Verschmutzung der Natur, etwa durch Pestizide oder Plastikmüll.

Invasive Arten, also nicht-heimische Tiere und Pflanzen, die das Gleichgewicht von Ökosystemen durcheinanderbringen.

Der Klimawandel: Die Auswirkungen der Erderwärmung auf die Biodiversität sind sogar größer als bislang angenommen, heißt es im kürzlich veröffentlichten Bericht des Weltklimarat IPCC. Sollte sich die Welt auch nur zeitweise über die kritische Marke von 1,5 Grad Celsius erwärmen, bestehe für bis zu 14 Prozent der Arten an Land ein „sehr hohes“ Risiko auszusterben. Ab zwei Grad würden weitere Lebensräume für Land- und Meeresökosysteme schrumpfen, das Risiko für Waldbrände steigen. Auch interessant:IPCC-Bericht: Die wichtigsten Botschaften für Deutschland

Wie groß ist das Ausmaß?

Der Verlust der Arten ist ein weltweites Phänomen. Der größte Schwund intakter Ökosysteme ist in den Tropen zu finden, wo die Vielfalt am höchsten ist. Die globale Population von Wirbeltierarten ist zwischen 1970 und 2016 um 68 Prozent gesunken, rechnet der WWF in seinen „Living Planet Report 2020“ vor. Die Bestände von Säugetieren, Vögeln, Amphibien, Reptilien und Fischen sind in der Karibik und in Lateinamerika am stärksten zurückgegangen – um ganze 94 Prozent. Europa hat mehr als ein Fünftel seiner Wirbeltierbestände verloren. Ebenfalls dramatisch steht es um die Artenvielfalt in besonders empfindlichen Landökosystemen wie Gewässern und Feuchtgebieten: Dem WWF zufolge ist die Biodiversität in diesen Gegenden um 84 Prozent geschwunden.

Vom Aussterben bedroht: Die Bestände von Korallenriffe brechen weltweit am stärksten ein.
Vom Aussterben bedroht: Die Bestände von Korallenriffe brechen weltweit am stärksten ein. © iStock | istock

Wie steht es in Deutschland um die Artenvielfalt?

Auch hierzulande ist die Situation bedenklich. Laut einer Stellungnahme der Leopoldina, der nationalen Akademie der Wissenschaften, sind insbesondere Agrarlandarten, die Felder, Weiden und Wiesen bewohnen, von einem „dramatischen Rückgang“ betroffen. Zu ihnen gehört etwa das Rebhuhn, das als stark gefährdet eingestuft wird. In Deutschland sind seine Bestände seit 1990 um 90 Prozent geschrumpft. In einem kritischen Zustand befinden sich zudem die typischen Vogelarten der Agrarlandschaft: Feldlerchen, Stare und Kiebitze. Hörbar verstummt das Vogelkonzert in Deutschland.

Und auch Insekten werden immer weniger: Von fast 600 Wildbienenarten sind mehr als die Hälfte bedroht, schreibt die Leopoldina. Im Norden der Republik zeichnet sich derweil ein deutlicher Rückgang von Zikaden und Heuschrecken ab. Und in einigen Regionen ist längst ein immenses Schmetterlingssterben eingetreten: Im Raum Düsseldorf sind im 20. Jahrhundert fast 60 Prozent der Tagfalterarten verloren gegangen.

Welche Folgen hat das Artensterben?

„Wir haben es mit einem existenziellen Problem für die Menschheit zu tun“, sagt Katrin Böhning-Gaese, Trägerin des Deutschen Umweltpreises 2021 und Direktorin des Senckenberg-Biodiversität- und Klimaforschungszentrums in Frankfurt am Main. „Unser Leben beruht auf der Biodiversität.“ So wirke sich der Rückgang bereits jetzt auf die Qualität von Lebensmitteln und Rohstoffen wie Holz aus. Und auch medizinische Erkenntnisse gingen verloren. „Die Basis vieler Medikamente sind Naturstoffe.“ Die biologische Vielfalt sorge schließlich dafür, das es der Umwelt gut geht. „Wenn allerdings Arten sterben, die Pflanzen bestäuben oder für Bodenbildung sorgen, dann verlieren Ökosysteme ihre Funktionsfähigkeit.“

Eine ehemals häufige Vogelart: Das Rebhuhn wird in Deutschland als stark gefährdet eingestuft.
Eine ehemals häufige Vogelart: Das Rebhuhn wird in Deutschland als stark gefährdet eingestuft. © iStock | istock

Wie können wir den Rückgang stoppen?

Ein erfolgreicher Abschluss der Weltnaturschutzkonferenz ist für Böhning-Gaese ein „ganz wichtiger Baustein“ in einem riesigen Komplex. Zudem müsse sich die Landwirtschaft verändern. Das bedeute zwangsläufig einen ökologischeren Landbau und eine Agrarpolitik, die Betriebe nach der Gemeinwohlleistung der subventioniert, nicht nach der Fläche. „Wir brauchen mehr Weidehaltung als Stallhaltung, denn diverse, blütenreiche Wiesen gehen in der Agrarlandschaft am stärksten zurück“, sagt die Biologin eindringlich. Auch die Gesellschaft müsse ihr Konsumverhalten ändern, etwa den Fleischverzehr reduzieren. Böhning-Gaese sagt, bei der Rettung der Biodiversität kommt es auf eine sozial-ökologische Transformation an. Sie hat aber Hoffnung, der Kampf gegen das Artensterben sei nicht verloren. Noch nicht.