Berlin. Immer mehr Experten und Politiker sprechen sich für eine Impfpflicht gegen das Coronavirus aus. Es wäre nicht die erste Pflichtimpfung.

Die Pandemie entwickelt sich dramatisch, Experten rechnen schon bald mit einer Impfpflicht, um das Coronavirus bestmöglich einzudämmen. Obwohl die drastische Maßnahme stark diskutiert wird, wäre es nicht das erste Mal, dass eine Impfung tatsächlich zur Vorschrift wird. Ein Überblick über die Geschichte der Impfpflicht in Deutschland.

Pocken: Bayern führt 1807 weltweit erste Impfpflicht ein

Der englische Arzt Edward Jenner entwickelte 1796 das Vakzin gegen die Pocken und präsentierte dieses zwei Jahre später. Nachdem Jenner aus Forschungszwecken einen Jungen mit Kuhpocken infiziert hatte, kamen Gerüchte auf, dass eine Impfung Menschen in Kühe verwandeln könnte. Bis zum ersten Weltkrieg soll das Kaiserreich rund 300.000 Impfgegner gezählt haben. Da die Wirksamkeit des Impfstoffs aber belegt war, ließ sich Bayern allerdings nicht von der Skepsis der Bevölkerung beirren und führte 1807 als weltweit erstes Land die Impfpflicht gegen Pocken ein. Einige andere Flächenstaaten zogen nach.

Nach dem Tod von rund 180.000 Menschen in der Pocken-Pandemie 1871 führte Otto von Bismarck 1874 endgültig mit dem Reichsimpfgesetz eine allgemeine Impfpflicht ein. Bürgerinnen und Bürger wurden in Impfeinrichtungen, bei Amtsärzten und sogar auf Bauernhöfen immunisiert. Wer sich einer Impfung verweigerte, musste mit Geldstrafen, Haft oder auch einer Zwangsimpfung rechnen.

Der letzte Pocken-Fall in Deutschland ereignete sich 1972: Ein Gastarbeiter hatte sich in Jugoslawien infiziert und reiste mit der Virusinfektion nach Hannover ein. 1976 wurde die Impfpflicht gegen Pocken in Westdeutschland aufgehoben. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärte die Krankheit drei Jahre später für ausgerottet.

Diphtherie: Impfungen seit 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert starben jedes Jahr rund 50.000 Kinder an Diphtherie. Robert Kochs Assistent Emil von Behring entdeckt eine Therapie gegen die bakterielle Infektion des Hals- und Rachenraums. 1894 erfolgte die erste Immunisierung gegen Diphtherie. Seit 1923 kann schließlich die prophylaktische Impfung gegen Diphtherie durchgeführt werden. Das Vakzin wurde 1936 in Deutschland zugelassen.

Bis heute empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) die regelmäßige Auffrischung der Impfung bei Erwachsenen. Die Grundimmunisierung sollte bereits im Kindesalter erfolgen.

Impfpflicht im dritten Reich gelockert

Im dritten Reich gab es unter den Nazis Impfgegner. Medizinhistoriker Malte Thießen zufolge schrieb Julius Streicher, Gründer und Herausgeber des Hetzblatts "Der Stürmer", dass "Impfungen von den Juden als Rassenschande in die Welt gebracht" worden seien.

Das Reichswehrministerium argumentierte allerdings, dass eine Abschaffung der Impfpflicht der Wehrfähigkeit des Deutschen Reiches schaden könnte. Obwohl die Diphtherie-Impfung im Anschluss freiwillig blieb, war der soziale Impfdruck hoch. Impfungen wurden als Dienst an der Volksgemeinschaft verstanden. Entsprechende Propagandafilme sollten die Bürgerinnen und Bürger aufklären und deren Impfwilligkeit stärken.

Triage wegen Polio: Deutschland spaltet sich

In den Fünfzigern brach Poliomyelitis immer wieder aus, vor allem bei Kindern. Bei schweren Verläufen der hochansteckende Viruserkrankung befällt das Polio-Virus Nervenzellen in Rückenmark und Gehirn, was zu Lähmungen führen kann. Auch die Atemmuskulatur kann ausfallen, wobei ein Luftröhrenschnitt oft die letzte Rettung ist. Schon Jahrzehnte vor der Corona-Pandemie fand deshalb eine Triage statt. Damals gab es nur wenige Geräte zur Behandlung.

Angesichts der Gefahr wurde in Ostdeutschland 1960 die Impfpflicht gegen Polio eingeführt. Im Gegensatz zur DDR blieb Westdeutschland skeptisch, was Impfstoffe betraf, was sich wiederum an den Infektionsfällen im folgenden Jahr zeigte. Während es in der DDR lediglich vier neue Infektionsfälle gab, waren es im Westen mehr als 4500. Erst 1962 begann der Westen, mit Impfstoffen aus den USA gegen Polio zu immunisieren.

Dennoch hatten Impfungen in der DDR einen höheren Stellenwert und waren im Gegensatz zum Westen Pflicht. Bis zur Volljährigkeit wurden Menschen hier bis zu 20 Mal geimpft, unter anderem gegen Tetanus, Tuberkulose, Masern oder Keuchhusten. Im Westen war nur die Pocken-Impfung Pflicht.

Masern: Spahn macht sich für Impfpflicht stark

Im März 2020 setzte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Impfpflicht durch. Das Bundesgesundheitsministerium schreibt: "Das Gesetz sieht vor, dass alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr beim Eintritt in die Schule oder den Kindergarten die von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Masern-Impfungen vorweisen müssen."

Auch Erzieher, Lehrer, Pflege- und medizinisches Personal, soweit diese Personen nach 1970 geboren sind, müssen einen Nachweis erbringen. Asylbewerber und Flüchtlinge haben Wochen nach Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft Zeit, sich impfen zu lassen.

Neben Polio, Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten gehören heute unter anderem die Immunisierung gegen Hepatitis B., Mumps und Röteln zum von der Stiko empfohlenen Standard.

Corona: Kommt die allgemeine Impfpflicht?

Seit Anfang 2021 wird in Deutschland gegen das Coronavirus geimpft. Während viele Leute bereits ehrgeizig nach Booster-Terminen Ausschau halten, gibt es allerdings noch immer viele Impfgegner.

Um die Corona-Welle zu brechen, sprechen sich immer mehr Experten und Politiker für eine Pflichtimpfung aus. Angesichts der neuen Omikron-Variante sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch in Brüssel: "Wir sollten möglicherweise über eine verpflichtende Impfung in der EU nachdenken". In der EU sind ein Drittel der Bürger bisher nicht gegen das Coronavirus geimpft. Die Impfpflicht sei "eine Diskussion, die geführt werden muss", so von der Leyen. (day)