Antakya. Mehr als einen Monat nach den Beben dauert die Suche nach Vermissten in den Ruinen an. Augenzeugen schildern apokalyptische Szenen.

Sie sind weg. Fast 400.000 Menschen haben bis vor wenigen Wochen in Antakya gelebt, aber die meisten sind tot oder geflohen. Die Groß- ist zur Geisterstadt geworden: 85 Prozent der Gebäude sind zerstört oder unbewohnbar, die Straßen gespenstisch leer.

„Wer kann, hat die Stadt verlassen“, berichtet ein Endfünfziger, der bei der Suche nach Vermissten hilft. Unter den Trümmern liegen noch viele Leichen. Rund um die Uhr räumen Bagger Schutt zusammen. Es riecht nach Verwesung.

Antakya nahe dem Mittelmeer ist zum Symbol einer „Jahrhundertkatastrophe“ geworden, wie es der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ausdrückt. Fünf Wochen ist es her, dass das Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien von zwei heftigen Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6 erschüttert wurde.

Erdbeben stürzt die Region ins Chaos

Mehr als 50.000 Menschen starben, allein in der Türkei stürzten etwa 230.000 Gebäude ein. Fast zwei Millionen Türken sind obdachlos. Etwa genau so viele haben die Region inzwischen verlassen. Zahlreiche deutsche Nothelfer, die nach den Beben am 6. Februar überstürzt ins Katastrophengebiet aufgebrochen waren, sind mittlerweile zurückgekehrt. Doch noch immer herrscht Chaos.

Thomas Weiß gehört zu denen, die lange geblieben sind. Der 57-Jährige leitet die Nahostabteilung der Hilfsorganisation Malteser International und ist erst seit wenigen Tagen wieder daheim in Köln. „Wir sind kreuz und quer durch das am schlimmsten betroffene Gebiet gefahren. Die Dimension der Zerstörung ist apokalyptisch, anders kann man das nicht ausdrücken“, sagt Weiß im Gespräch mit dieser Redaktion.

Ruinenstadt: Zerstörung in der türkischen Provinz Hatay.
Ruinenstadt: Zerstörung in der türkischen Provinz Hatay. © AFP | OZAN KOSE

Hunderttausende harren in Zelten aus, die Behelfsunterkünfte stehen in Parks und Vorgärten, auf Höfen und Spielplätzen, am Straßenrand, auf Olivenbaumplantagen. Es fehlt an Trinkwasser und Toiletten. „Die Traurigkeit, die einem dort begegnet, ist herzzerreißend“, so Weiß.

Erdogan, der auf seine Wiederwahl im Mai hofft, verspricht zwar, dass innerhalb eines Jahres neue Häuser stehen sollen. Doch Weiß hat Zweifel, ob das gelingt. „Die Erdbebenregion ist etwa halb so groß wie Deutschland“, erklärt er. „Wir brauchen viel mehr Geldspenden. Die Häuser, Geschäfte und Fabriken wiederaufzubauen, das ist ein Generationenprojekt.“

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Erdbeben: Fast 100 Milliarden Euro Schaden

In Nordwestsyrien ist das Ausmaß des Leids noch schwerer zu erfassen. Die vom jahrelangen Bürgerkrieg gebeutelten Menschen sorgen sich vor Krankheiten wie Cholera. Tausende Menschen werden weiterhin vermisst. Viele Trümmer wurden seit den Erdbeben noch gar nicht bewegt, weil es an schweren Geräten fehlt. Niemand traut sich, zu schätzen, wie viele Tote in den Ruinen begraben liegen – bestätigt sind im im Nordwesten Syriens rund 5900 Opfer.

Dort gibt es inzwischen 1400 offizielle und inoffizielle Camps, in denen Millionen Obdachlose und Vertriebene leben. Wer dort wegen Überfüllung abgewiesen wird, sucht Unterschlupf in zerstörten Häusern – trotz der verbreiteten Angst vor weiteren Nachbeben.

Beobachter fürchten, dass die Beben nur der Beginn eines langen Alptraums waren. Frauen und Kinder seien in Gefahr, Opfer von Übergriffen zu werden: „In den Straßen gibt es kaum Licht, es herrscht Dunkelheit und ein unsicheres Umfeld. Es ist bekannt, dass Gewalt in solchen Zeiten steigt“, warnt die türkische Ärztevereinigung.

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Manuela Roßbach vom Bündnis „Aktion Deutschland Hilft“ sagt: „Nach der akuten Nothilfe wird der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur sicher Jahre andauern.“ In der Südosttürkei schätzt das UN-Entwicklungsprogramm UNDP die Schäden auf rund 94 Milliarden Euro, wobei die Wiederaufbaukosten noch oben drauf kommen.

Die beiden Länder schaffen es nicht, all die Toten zu identifizieren. Es habe Verwechslungen bei den Beisetzungen gegeben, berichtet der türkische Sender NTV. Und zuletzt hätten Gerichtsmediziner 2500 Leichen nicht zuordnen können. Von einer Rückkehr zur Normalität sind die Überlebenden weit entfernt.