Berlin. Der ESC-Experte und Buchautor erzählt im Interview, wie sich das Musikevent verändert – und warum Deutschland oft schlecht abschneidet.

Lukas Heinser ist einer von Deutschlands Experten in Sachen Eurovision Song Contest. Seit 2013 ist er Assistent des legendären ESC-Kommentatoren Peter Urban. In seinem neuen Buch „Eurovision Song Contest. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“ erzählt er interessante und kuriose Geschichten rund um das Musikevent.

Im Interview mit unserer Redaktion erzählt Heinser, wie sich der ESC in den letzten Jahren verändert hat, wer sein Favorit in diesem Jahr ist – und warum Deutschland meistens schlecht abschneidet. Lesen Sie hier: Die Finalisten und Startreihenfolge des ESC 2022

Herr Heinser, Sie waren in den letzten Tagen bei den Proben für den Eurovision Song Contest in Turin dabei. Wie waren Ihre ersten Eindrücke?

Lukas Heinser: Ich glaube, es wird ein spannendes, aber vor allem ein interessantes Jahr. Die Entwicklung vom letzten Jahr, in dem es mehr Rock- und Indie-lastige Beiträge gab, setzt sich fort. Diese verrückten, lauten und bunten Sachen, die man in den vergangenen Jahrzehnten hatte, sind weniger geworden. Es gibt auch einige Acts mit Folklore-Elementen, wie etwa die Band aus Moldawien, was man bei solch einer Veranstaltung auch erwartet. Ich würde aber sagen, das meiste ist durchgängig Radioware – im positiven Sinne.

Also ist ihr Eindruck, dass der ESC ein wenig ernster und seriöser wird?

Heinser: Ja, seriöser im Sinne von musikalisch anspruchsvoller. Diese Entwicklung konnte man schon beim letzten Song Contest beobachten. Besonders die Gewinner Måneskin haben eine Karriere hingelegt, die man so seit Abba nicht mehr gesehen hat. Das erwarte ich in diesem Jahr zwar nicht unbedingt, aber es ist schon so, dass der ESC wieder zeitgenössische Musik widerspiegelt – so, wie es auch ursprünglich einmal gedacht war.

Der ESC war schon immer eine politische Veranstaltung. Denken Sie, es wird in diesem Jahr wegen des Ukraine-Krieges noch politischer werden?

Heinser: Natürlich wird der Ukraine-Krieg eine Rolle spielen. Die Frage ist, inwiefern er die Punktevergabe beeinflussen wird. Das Voting-System ist eingeteilt in Jury-Votes und Publikums-Votes, die jeweils zu 50 Prozent zählen. Ich würde sagen, dass sich die Jury bei der Punktevergabe weniger von den aktuellen Geschehnissen beeinflussen lässt, beim Publikum muss man einfach abwarten. Mehr zum Thema: Livestream und TV: Wo Sie den ESC 2022 live schauen können

Viele sehen die Ukraine als Favoriten für den Gewinn – auch etwa die Buchmacher. Sie sehen das nicht so?

Heinser: Nein. Ich habe die Proben vom Beitrag für das Vereinigte Königreich gesehen und bin begeistert. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es Zuschauer geben wird, die für ihren persönlichen Favoriten und die Ukraine abstimmen werden. Tatsächlich habe ich mich aber noch nie so früh auf einen möglichen Gewinner festgelegt wie in diesem Jahr – außer bei Lena im Jahr 2010, aber das war auch mein erster ESC.

Cover_Eurovision_Song_Contest.jpg
© Lukas Heinsers Buch „Eurovision Song Contest. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“ erscheint im Klartext Verlag.

Haben Sie noch weitere Favoriten für die oberen Plätze?

Heinser: Schweden wird wie immer hoch gehandelt. Die Schweiz hat einen sehr starken Song, auch die Niederlande haben einen guten Beitrag – eine ruhige, bewegende Indie-Ballade in Landessprache. Das letzte Jahr hat gezeigt, dass man nicht nur auf Englisch singen muss.

Wie schätzen Sie die Chancen für Deutschland ein?

Heinser: Gut! Malik Harris ist tatsächlich ein großartiger Künstler. Ich hoffe, dass uns ein Schicksal wie in den letzten Jahren erspart bleibt. Ich bin aber sehr optimistisch, dass Malik eine sehr gute Performance abliefern wird.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Deutschland in den vergangenen Jahren so schlecht abgeschnitten hat? Ist das ein Politikum oder liegt es an den Acts, die wir zum ESC hingeschickt haben?

Heinser: Schwer zu sagen. Es ist ja nicht unbedingt so, dass wir schlechte Songs zum ESC schicken – sondern vielleicht eher solche, die vielen Menschen egal sind und sie nicht motiviert, abzustimmen. Und man darf nie vergessen: Jedes Land gibt nur an seine Top 10 Punkte, das heißt, man könnte theoretisch in allen Ländern auf Platz 11 landen und stünde am Ende des Abends mit null Punkten da.

Könnte Nicole mit einem Song wie „Ein bisschen Frieden“ heute noch einmal gewinnen – gerade im aktuellen Kontext?

Heinser: Das ist eine interessante Frage. 1982 ist zwischen dem ESC-Vorentscheid und dem Finale in Harrogate der Falkland-Krieg ausgebrochen. Das hat sicherlich auch zu Nicoles Sieg verholfen, obwohl das Thema auch vorher schon in der Luft lag. In Landessprache mit Gitarre singen funktioniert auch heute noch – wenn das Arrangement des Songs zeitgenössischer wäre, könnte es immer noch funktionieren.

Sie haben das Buch geschrieben „Eurovision Song Contest – Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“ geschrieben, in dem es um ESC-Trivia geht. Welche Geschichte aus dem Buch ist ihre Lieblingssstory?

Heinser: Ich mag besonders die Story von Céline Dion. Viele wissen gar nicht, dass sie im Jahr 1988 den Eurovision Song Contest für die Schweiz gewonnen hat. Sie immer wenig darüber gesprochen und man weiß nicht, ob sie es verdrängen wollte oder nie darauf angesprochen wird, weil alle denken, dass sie es verdrängen will. Ich finde auch die Verbindung vom ESC und James Bond sehr interessant. In den 60ern gab es gleich zwei Acts, die sowohl einen James-Bond-Titelsong gesungen haben und beim ESC angetreten sind – Lulu hat sogar gewonnen.

Wie kamen Sie dazu, den ESC zu begleiten?

Heinser: Ich kam über Stefan Niggemeier zum Eurovision Song Contest. Er hatte mich 2007 gefragt, ob ich mit ihm für seinen Blog die Songs des ESC besprechen würde. Ab 2010 haben wir die Veranstaltung mit einem Videoblog begleitet. Durch meine Kontakte hat es sich dann ergeben, dass ich 2013 die Seiten gewechselt habe und seitdem als Assistent des deutschen Kommentators Peter Urban dabei bin.

Was macht den ESC zu einer so beliebten Veranstaltung?

Heinser: Ich denke, dass ist vor allem dieses „Lagerfeuer“-Gefühl, was man im Fernsehen sonst kaum noch hat. Menschen sitzen gleichzeitig vor dem Fernseher und können sich über die sozialen Medien austauschen. Eine Zeit lang war der ESC ein wenig wie ein Autounfall – man kann nicht weggucken. Das hat sich in den letzten Jahren aber gebessert, gerade sind wir in einer Art Zwischenstadium. Man muss sehen, wie der Eurovision Song Contest mit einem relativ geringen „Trash-Faktor“ funktioniert. Daran muss sich auch das Publikum erst gewöhnen. Ich bin aber optimistisch und denke, der ESC ist gut aufgestellt, um als kontemporäres Popmusik-Festival zu funktionieren.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.

Lukas Heinsers Buch „Eurovision Song Contest. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“ erscheint im Klartext Verlag.