Berlin. Ein Gutachten belastet den emeritierten Papst Benedikt XVI. Es geht um Fehler im Umgang mit sexuellem Missbrauch. Vatikan alarmiert.

  • Ein Gutachten um Fehler der katholischen Kirche im Umgang mit sexuellem Missbrauch belastet den früheren Papst schwer
  • Benedikt XVI. soll bei mehreren Missbrauchsfällen weggeschaut haben
  • Ein Interesse am Schicksal der Opfer soll er nicht gehabt haben
  • Weitere hohe Kirchenvertreter stehen ebenfalls weiter in der Kritik

Der Missbrauchsskandal im Bistum München und Freising schlägt hohe Wellen. Am Donnerstag hat sich der Vatikan eingeschaltet. Der Heilige Stuhl will ein Gutachten einsehen und prüfen, das den emeritierten Papst Benedikt XVI. schwer belastet. Hat er sexuellen Missbrauch vertuscht?

Die Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl stellte ein Gutachten zu Missbrauchsfällen im katholischen Erzbistum von 1945 bis 2019 vor. Daraus gehen Hinweise auf fast 500 Betroffene sexualisierter Gewalt hervor. In mindestens vier Fällen lastet die Untersuchung dem früheren Kardinal Ratzinger bis Anfang der 80er Jahre Fehlverhalten an.

Missbrauchskandal: Nichts hören, nichts sehen, nichts tun

Ihm wird vorgeworfen, dass er damals wegschaute - ein Interesse an den Missbrauchsopfern sei bei Ratzinger „nicht erkennbar“ - und bis heute nicht bei der Aufklärung hilft. So gab er an, bei einer Sitzung gefehlt zu haben, bei der ein pädophiler Priester eingestellt wurde.

Diese Aussage hält Rechtsanwalt Ulrich Wastl. "für wenig glaubwürdig". Zum einen wurde Ratzinger im Protokoll nicht als abwesend geführt. Zum anderen finden sich dort sogar Aussagen von ihm zu anderen Themen.

Halbwahrheiten oder sogar Unwahrheiten von Ratzinger?

"Erschreckend ist das Lügen, das Unwahrheitsagen von Joseph Ratzinger“, sagte der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller im Bayrischen Rundfunk. „Er hat heute sein eigenes Lebensbild zerstört."

In einem weiteren Interview sprach er von einem "persönlichen Waterloo", Ratzinger habe die letzte Chance vertan, reinen Tisch zu machen. "Er wird der Unwahrheit überführt und demaskiert sich damit selbst als aktiver Vertuscher. Er fügt der katholischen Kirche und dem Papstamt damit einen irreparablen Schaden zu“, so Schüller.

Scharfe Kritik von der Reformbewegung "Maria 2.0"

Die Frauen-Reformbewegung Maria 2.0 übte scharfe Kritik an der gesamten Katholischen Kirche. „Es fand sich, wie Gutachterin Dr. Marion Westpfahl betonte, in den ganzen Bemühungen, den Missbrauch aufzuarbeiten, nicht ein Gerechter." Das bedeute: "Alle im Gutachten erwähnten Amtsträger haben sich schuldig gemacht“, sagte Lisa Kötter, Initiatorin der Frauen-Reformbewegung Maria 2.0. unserer Redaktion. Die Amtsträger hätten sich als Systemträger an der Vertuschung des Missbrauchs beteiligt. „Es ging nie um den Schutz der Schwachen.“

Nun wird darüber spekuliert, ob der amtierende Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx dem Papst erneut seinen Rücktritt anbieten werde.

Auch ihm werfen die Gutachter Untätigkeit vor. Es sei ungeachtet der vielen Meldungen nur in „verhältnismäßig geringer Zahl“ festzustellen, dass sich der Kardinal überhaupt unmittelbar mit Missbrauchsfällen befasst habe, sagte Wastls Partner Martin Pusch. Außerdem sei Marx in zwei Verdachtsfällen ein konkretes fehlerhaftes Verhalten vorzuwerfen.

Aufklärung - auch Kardinal Marx kommt nicht gut weg

Pusch sagte, Marx habe sich auf eine „moralische Verantwortung“ zurückgezogen und die direkte Verantwortung im Generalvikariat gesehen. Bei so einem zentralen Thema greife es zu kurz, "auf die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit ihm unterstellter Funktionsträger zu verweisen“, so Pusch. Was sei Chefsache, wenn nicht sexueller Missbrauch? Erst ab dem Jahr 2018 habe es bei Marx eine geänderte Haltung gegeben.

Benedikt soll die Vorwürfe strikt zurückgewiesen haben. Besonders ein Fall sorgt seit Längerem für Kritik: Ein Priester soll vielfach Jungen missbraucht haben und wurde zur Amtszeit Ratzingers aus Nordrhein-Westfalen nach Bayern versetzt. Dort wurde er immer wieder rückfällig und letztlich rechtskräftig wegen Kindesmissbrauchs verurteilt.

Vatikan bekräftigt "Gefühl der Scham und Reue"

Der Fall macht 370 Seiten des insgesamt mehr als 1700 Seiten starken Gutachtens aus, den Marx in Auftrag gegegen hatte. Ihm halten die Anwälte Fehlverhalten im Umgang mit zwei Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch vor. Es gehe um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom. Marx war am Donnerstag bei der Vorstellung des Gutachtens nicht anwesend.

Auch Ratzingers direktem Nachfolger als Münchner Erzbischof, Kardinal Friedrich Wetter, wirft das Gutachten Fehlverhalten in 21 Fällen vor. Wetter habe die Fälle nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, so Pusch. Wastl sprach von einer "Bilanz des Schreckens".

Fast 500 Missbrauchsopfer, die meisten männlich

Der Pressesprecher des Vatikans, Matteo Bruni, bekräftige „sein Gefühl der Scham und Reue für den Missbrauch von Minderjährigen durch Geistliche“. Gleichzeitig wolle die katholische Kirche auf dem eingeschlagenen Weg bleiben, die Kinder zu schützen.

Insgesamt ergaben sich laut dem Gutachten für das Münchner Erzbistum bei 235 von 261 untersuchten Mitarbeitern der Kirche Hinweise auf sexuell missbräuchliche Verhaltensweisen. Davon waren 173 Priester. Die Studie geht von 497 Opfern aus - 247 davon männlich und 182 weiblich. In 68 weiteren Fällen sei eine zuverlässige Zuordnung nicht möglich gewesen. 60 Prozent der männlichen Opfer waren zwischen acht und 14 Jahre alt.

(fmg)