Berlin. Ein Kassierer ermahnt einen Kunden zum Masketragen - und wird erschossen. Der Fall schockiert. Wie radikal sind die Corona-Leugner?

Er kommt zurück, setzt den Nasen-Mund-Schutz auf, stellt sich an, wartet, bis jeder Kunde an der Kasse in der Aral-Tankstelle zahlt – erst dann reißt er sich die Maske vom Gesicht. Der Mann will provozieren. Er weiß genau, dass der Kassierer die Maskenpflicht anmahnen wird. Denn das hat er so, genau so, eineinhalb Stunden zuvor erlebt.

Nun nimmt die Wiederholung eine jähe Wendung. Diesmal zieht er einen großkalibrigen Colt aus der Hosentasche und erschießt den Kassierer, einen 20-jährigen Studenten. „Das ist der erste Fall einer Tötung in Verbindung mit Corona“, betont der Vizechef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Idar-Oberstein, Sonnabendabend, 21.25 Uhr: In der rheinland-pfälzischen Provinz sieht es zunächst nach einem gewöhnlichen Gewaltverbrechen aus. Erst das Motiv, das sich zwei Tage später herausstellt, macht daraus eine Tat mit bundesweiter Signalwirkung. Der Kassierer musste sterben, weil er auf die Einhaltung der Maskenpflicht pochte. Es ist die Fallkonstellation, die viele Sicherheitsexperten seit Langem befürchten.

Für das Jahr 2020 wurden 3559 politisch motivierte Straftaten im Zusammenhang mit Covid-19 gemeldet, wie aus einem Lagebild des Bundeskriminalamtes hervorgeht. „Wir nehmen seit letztem Jahr eine Radikalisierung von Corona-Gegnern wahr. Insbesondere im Zusammenhang von Demonstrationen im Querdenken-Milieu“, sagt GdP-Vize Radek. Es sei wichtig, dass die Sicherheitsbehörden radikale Kräfte in den Blick nehmen. Sei es von links, rechts oder aus der Querdenker-Szene, meint der Gewerkschafter.

Verfassungsschutz warnte vor Gewalt mit tödlichem Ausgang

Am 6. September warnte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, bei einer TV-Dokumentation auf ProSieben über die Szene der Corona-Leugner: „Die Radikalität jedenfalls nimmt zu. Es ist auch eine Gewaltspirale, die sich nach oben dreht.“ Wenn die sich weiterdrehe, weiter angefacht werde durch Hass und Hetze, „würde ich auch nicht ausschließen, dass solche Gewalt auch irgendwann tödlich enden kann“. Wie in Idar-Oberstein. Lesen Sie auch:Wie die Corona-Leugner Ängste vor den Impfungen schüren

Der mutmaßliche Täter, ein 49-jähriger Deutscher aus Idar-Oberstein, hat sich bereits am Morgen nach der Tat gestellt. Er war bis dahin „polizeilich nicht in Erscheinung getreten“, wie das zuständige Polizeipräsidium Trier mitteilte. Auch der Verfassungsschutz hatte ihn nicht auf dem Radarschirm. Es ist auch nicht sicher, ob er in der Szene der Corona-Leugner und Impfverweigerer aktiv war.

Bei Demonstrationen von Gegnern der Corona-Maßnahmen herrschte immer wieder eine aggressive, gewaltbereite Stimmung – wie hier im Frühjahr in Kassel.
Bei Demonstrationen von Gegnern der Corona-Maßnahmen herrschte immer wieder eine aggressive, gewaltbereite Stimmung – wie hier im Frühjahr in Kassel. © Getty Images | Thomas Lohnes

Man kann streng genommen nicht von einer Affekttat im engeren Sinne sprechen. Denn zwischen seinem ersten und dem zweiten Wortgefecht mit dem Kassierer liegen 100 Minuten. 100 Minuten, in denen er offenbar den Mordentschluss fasst, sich eine Waffe holt, zur Tankstelle zurückeilt und zu Fuß flüchtet.

Die Ermittler haben es leicht. Sie müssen nur die Videos der Überwachungskameras auswerten. Noch in der Nacht fahnden sie mit einem Foto nach dem Mann mit der dunklen Hose und dem weißen T-Shirt mit der Aufschrift einer amerikanischen Biermarke. Alsbald gehen zahlreiche Hinweise bei der Polizei ein, ein anderer Mann wird noch in der Nacht in einer Gaststätte aufgegriffen und verhört, kann aber seine Unschuld glaubhaft machen.

Nachdem sich der Täter der Polizei gestellt hat, sagt er aus, dass er die Corona-Schutzmaßnahmen ablehnt und den Kassierer aus Ärger darüber erschossen habe, dass dieser ihn zurechtgewiesen hatte. Bei ihm zu Hause finden die Ermittler weitere Schusswaffen und Munition.

Derzeit konzentrieren sie sich darauf, was er in der langen Zeitspanne zwischen den zwei Disputen in der Tankstelle getan und woher er die Waffen hat. Auch über den Geisteszustand des Verdächtigen ist noch wenig bekannt. Lesen Sie auch:Wie Nina Hagen sich gegen Querdenker wehrt

Blumen und Kerzen sind vor der Tankstelle aufgestellt, in der der 20-jährige Kassierer erschossen wurde.
Blumen und Kerzen sind vor der Tankstelle aufgestellt, in der der 20-jährige Kassierer erschossen wurde. © dpa | Birgit Reichert

Eine „unfassbare Eskalation“, sagt der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle. In ihr zeige sich „die ganze Verachtung für das Gemeinwesen, die von der radikalen Querdenker- und Corona-Leugner-Szene ausgeht“. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz zeigt sich „erschüttert“ und betont, man müsse sich als Gesellschaft dem Hass entschlossen entgegenstellen. „Der Täter muss hart bestraft werden.“ So oder so ähnlich klingen die ersten Reaktionen in Berlin. Viel Ratlosigkeit ist dabei.

Die Tat ist nicht einzigartig. Zumindest im Ausland kam es in der Vergangenheit zu tödlichen Auseinandersetzungen im Streit über die Maskenpflicht. In Südfrankreich sorgte im Juli 2020 ein Übergriff auf einen Busfahrer landesweit für Entsetzen. Der Mann hatte vier Fahrgäste an einer Haltestelle zurückgewiesen, die ohne Schutzmasken einsteigen wollten, und mehrere Passagiere ohne Maske zum Aussteigen aufgefordert. Daraufhin wurde er angegriffen und lebensgefährlich verletzt. Im Krankenhaus erlitt er den Hirntod.

In den USA machten mehrere ähnliche Vorfälle wie in Idar-Oberstein Schlagzeilen: In Georgia erschoss im Juni ein Maskenverweigerer eine Supermarktkassiererin. In Michigan starb im Mai 2020 ein Wachmann in einer Filiale der Discounterkette „Family Dollar“, nachdem eine Kundin ihm in den Kopf geschossen hatte. Zuvor hatte der Wachmann ihre Tochter auf das Tragen einer Maske hingewiesen.

Im Netz jubeln Rechte und Radikale über den Mord

Was deutsche Politiker am Fall in Idar-Oberstein erschrecken muss, sind die Abgründe, die sich auftun, die Radikalität, die Militanz, nicht zuletzt das Echo aus der Szene. Auf Telegram-Kanälen wird der Mord wie ein Fall von „Notwehr“ behandelt. Verschwörungstheorien machen die Runde. Es sei eine Aktion unter falscher Flagge, um Stimmung gegen Ungeimpfte zu machen.„Sind es die ersten, die durchdrehen, oder ist es nur ein Fake, um Stimmung gegen die Ungeimpften zu machen?“, heißt es da. Oder: „Wenn ich sowas gemacht hätte, dann hätte ich zumindest die Maske aufgehabt. Die Person sollte hier ganz klar zu erkennen sein und ich sage das ist FAKE!“

Wieder ein anderer User schreibt: „Da hat der arme Student wohl nicht mit gerechnet. An Corona stirbt er wenigstens nicht mehr.“ Im Chat-Kanal des rechtsextremen Verschwörungsideologen Sven Liebich gibt einer zu Protokoll, der Täter habe wohl die „Schnauze voll“ gehabt, „wenns die richtigen trifft, hab ich nichts dagegen“