Moskau/Berlin. In Russland begegnet die Polizei den Nawalny-Demonstrationen mit Gewalt und Verhaftungen. Die EU und USA kritisieren dies scharf.

  • In rund hundert russischen Städten demonstrierten Nawalny-Anhänger am Wochenende für die Freilassung des Kremlkritikers
  • In Moskau und andernorts ging die Polizei gewaltsam gegen die Demonstranten vor, mehr als 3500 wurden festgenommen
  • Die EU und die USA kritisieren das Vorgehen der Sicherheitskräfte scharf
  • Für das kommende Wochenende sind weitere Proteste geplant

Es sind Szenen, die die Allmacht des autokratisch regierenden Kreml-Chefs Wladimir Putin infrage stellen: In rund 100 russischen Städten haben am Wochenende Zehntausende Menschen für die Freilassung des inhaftierten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny protestiert. Die Nervosität der Regierung in Moskau scheint angesichts der beispiellosen oppositionellen Massenbewegung zu wachsen. Der Polizeiapparat ging vielerorts mit Gewalt gegen die Protestierenden vor und nahm Tausende von ihnen in Gewahrsam. Bürgerrechtlern zufolge wurden am Sonnabend landesweit mehr als 3400 Menschen festgenommen.

Allein in der Hauptstadt Moskau wurden mindestens 1360 Demonstranten festgesetzt, teile das Portal OWD-Info am Sonntag mit. Weitere 523 Festnahmen gab es in Sankt Petersburg. Nach Angaben von Russlands Kinderrechtsbeauftragtem wurden zudem rund 300 Minderjährige festgesetzt. Auch Nawalnys Ehefrau Julia Nawalnaja war in Moskau für mehrere Stunden in Gewahrsam genommen worden. Nach Behördenangaben befanden sich die meisten Festgenommenen am Sonntag wieder auf freiem Fuß.

Polizisten tragen am Puschkin-Platz in Moskau einen Nawalny-Unterstützer weg.
Polizisten tragen am Puschkin-Platz in Moskau einen Nawalny-Unterstützer weg. © Uncredited/AP/dpa

Unzufriedenheit über "System Putin" wächst


Der Zustrom zu den putinkritischen Protesten zeigt eine landesweit wachsende Unzufriedenheit mit dem „System Putin“ und eine Bereitschaft, den Regierenden offen zu widersprechen. „Freiheit für Nawalny!“ und „Putin, uchodi!“ (zu Deutsch „Putin, hau ab!“) skandierten Menschen bei den Kundgebungen. Die Schriftstellerin Lisa Alexandrowa-Sorina sieht in den Protesten gar einen Wendepunkt: „Trotz der staatlichen Drohpropaganda hat sich das Volk zum ersten Mal mit der Polizei geprügelt.“


Nawalnys Mitstreiter sprachen von 40.000 Menschen, die am Wochenende allein in Moskau auf die Straße gegangen seien. Mehrere Nachrichtenkorrespondenten sprachen von schätzungsweise 20.000. Die Polizei hatte die Zahl der Teilnehmer an der nicht genehmigten Kundgebung in der Hauptstadt mit rund 4000 angegeben.

Selbst 40.000 Demonstranten stellen in der 15-Millionen-Stadt Moskau nur einen Bruchteil der Bevölkerung dar. Zum Vergleich: Im weißrussischen Minsk gingen von zwei Millionen Einwohnern vergangenes Jahr wiederholt über 100.000 gegen Staatschef Alexander Lukaschenko auf die Straße.


In Sankt Petersburg geht die Staatsanwaltschaft nach eigenen Angaben Hinweisen auf mögliche Polizeigewalt bei den Protesten nach. Örtliche Medien hatten zuvor ein Video veröffentlicht, auf dem eine Demonstrantin mittleren Alters zu sehen ist, die zu Boden fällt, nachdem ein Polizist ihr in den Bauch trat. Nach Angaben des behandelnden Krankenhauses erlitt die Frau Kopfverletzungen und befindet sich auf der Intensivstation. In Moskau waren nach offiziellen Angaben 29 Menschen mit Verletzungen in Kliniken behandelt worden.

Kremlkritiker Alexej Nawalny in einer Moskauer Polizeistation.
Kremlkritiker Alexej Nawalny in einer Moskauer Polizeistation. © --/Navalny Life/AP/dpa

Putin-Widerstand bei minus 56 Grad


Auch andernorts wächst der Widerstand. In Wladiwostok, ganz im Osten des Riesenreichs, gingen laut dem Nachrichtenportal meduza.io mehr als 3000 Menschen auf die Straße, weitere jeweils 3000 in den sibirischen Städten Irkutsk und Nowosibirsk. Die Menschen trotzten ex­tremen Minusgraden – in Jakutsk in Sibirien herrschten minus 56 Grad Celsius. Der Kreml spielte die Massendemonstrationen herunter: Es seien „wenige Menschen“ zu den Protesten gegangen, „viele Menschen stimmen für Putin“, sagte dessen Sprecher Dmitri Peskow im Staatsfernsehen. Auch in Deutschland und anderen Staaten demonstrierten Menschen für die Freilassung Nawalnys. In Berlin zogen rund 2000 Menschen an der russischen Botschaft vorbei.


Nawalny drohen mehrere Strafverfahren und viele Jahre Gefängnis. In Haft sitzt der 44-jährige Oppositionspolitiker aktuell zunächst für 30 Tage, weil er gegen Meldeauflagen in einem früheren Strafverfahren verstoßen haben soll – während er sich in Deutschland von einem Giftanschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok erholte. Nawalny macht Putin und den Inlandsgeheimdienst FSB für den Anschlag im August verantwortlich.

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    Die Wut der Nawalny-Anhänger richtet sich auch gezielt gegen Putin. Ihm werfen Kritiker einen zunehmend autoritären Führungsstil und Korruption vor. Ein kürzlich veröffentlichtes Enthüllungsvideo von Nawalnys Team soll beweisen, dass der Präsident sich aus Schmiergeldern von Oligarchen eine Schlossanlage am Schwarzen Meer bauen ließ – samt Casino, Eishockey-Arena und Hubschrauber-Landeplatz. Der Kreml bezeichnet die Vorwürfe in dem fast 80 Millionen Mal angeklickten Film als „Unsinn“ und „Lüge“.


    Die EU und die USA verurteilten das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell kritisierte bei Twitter „den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt“ und kündigte für Montag Beratungen der EU-Außenminister über „weitere Schritte“ an. Auch die US-Regierung kritisierte das „harsche Vorgehen“. Moskau warf seinerseits den USA Einmischung in interne Staatsangelegenheiten vor. Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Johann Saathoff (SPD), rief Putin auf, die gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe auszuräumen. (mit dpa/afp)