Oldenburg. Pfleger Niels Högel tötete in zwei Kliniken mindestens 91 Patienten. Nun stehen Ex-Vorgesetzte vor Gericht. Sie ließen ihn gewähren.

Sein letztes Opfer ist Renate R., 67 Jahre alt. Die Frau war einige Tage zuvor zu Hause gestürzt und hatte sich den rechten Oberschenkelhals gebrochen. Im Klinikum Delmenhorst begegnet sie im Juni 2005 ihrem Mörder, dem nach Aufmerksamkeit gierenden Pfleger Niels Högel, der schon unzähligen wehrlosen Patienten falsche Medikamente gespritzt hatte.

Renate R. erleidet einen Herzstillstand. Kurz nach 19 Uhr erklären Ärzte sie für tot.

Die bettlägerige Dame hätte leicht gerettet werden können. Denn Högel, der wohl schlimmste Serienkiller der Nachkriegszeit, war wenige Tage zuvor auf frischer Tat ertappt worden. Doch statt sofort die Polizei zu rufen oder Högel wenigstens aus dem Krankenhaus zu werfen, schwiegen seine Chefs den Skandal tot.

Der Todespfleger durfte noch zwei Schichten ableisten, danach hatte er Urlaub. Erst später wollten seine Vorgesetzten das weitere Vorgehen beraten. Ein verheerender Fehler: Am Abend seines letzten Arbeitstags tötet Högel Renate R. Mehr zum Thema:Serienmörder Högel: Bringt der neue Prozess alles ans Licht

Niels Högel – Chefs hatten Angst um den guten Ruf

Warum stoppte den Massenmörder bis zuletzt niemand? Tragen seine Chefs eine Mitschuld am Tod der mindestens 91 Patienten, die der 2019 zu lebenslanger Haft verurteilte 45-Jährige nachweislich zwischen 2001 und 2005 umgebracht hat? Diese Fragen werden seit Donnerstag am Landgericht Oldenburg verhandelt.

Dieser Mann ist ein Serienmörder: Niels Högel – hier bei einem früheren Prozess – soll gegen seine ehemaligen Chefs aussagen.
Dieser Mann ist ein Serienmörder: Niels Högel – hier bei einem früheren Prozess – soll gegen seine ehemaligen Chefs aussagen. © picture alliance / dpa | Mohssen Assanimoghaddam

17 Jahre nach dem Tod von Renate R. läuft nun das vorerst letzte Verfahren rund um die Patientenmorde. Angeklagt sind sieben Verantwortliche aus dem Klinikum Oldenburg und dem Krankenhaus Delmenhorst. Der Vorwurf lautet: Beihilfe zum Totschlag durch Unterlassen.

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft hätten sie einige Taten Högels mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ verhindern können, sagte Staatsanwältin Gesa Weiß. Denn allen Angeklagten sei irgendwann klar gewesen, dass von Högel eine Gefahr für die Kranken ausging. Dennoch seien sie aus Sorge um den Ruf ihrer Krankenhäuser und das eigene Ansehen nicht eingeschritten. Auch interessant:Patientenmörder Niels Högel: Deshalb tötete er regelmäßig

So wurde Högel an der Klinik Oldenburg lediglich bei vollen Bezügen freigestellt, als die ungewöhnlich vielen Todesfälle dort 2002 auffielen. Sein Arbeitgeber gab ihm sogar noch ein gutes Zeugnis mit auf den Weg. Nur Wochen später fand er eine Anstellung in Delmenhorst.

Niels Högel sagt als Zeuge aus

Einige der Angeklagten – drei Ärzte, drei leitende Pflegerinnen und Pfleger sowie ein Ex-Klinik-Geschäftsführer – arbeiten noch immer in den Kliniken, sie weisen die Vorwürfe als haltlos und widersprüchlich zurück. „Ein Herzchirurg, der als Chefarzt über viele Jahre teils stundenlang bei Operationen um das Leben seiner Patienten kämpft, ist niemals damit einverstanden, dass sie anschließend auf der Intensivstation von einem Pfleger getötet werden“, ließ ein Mandant über seine Rechtsanwältin erklären.

Im Gerichtssaal werden Schränke mit Akten aufgebaut.
Im Gerichtssaal werden Schränke mit Akten aufgebaut. © dpa | Sina Schuldt

Der Ex-Geschäftsführer der Klinik Oldenburg kündigte an, man werde in dem Verfahren beweisen, dass es zu seiner Zeit keine Verdachtsmomente gegen Högel gegeben habe.

Bis Richter Sebastian Bührmann ein Urteil verkündet, werden Monate vergehen. „Die Uhren sind unsererseits auf null gestellt“, sagte er zum Auftakt – alle Tötungsvorwürfe müssten neu verhandelt und bewiesen werden. 42 Prozesstage sind dafür angesetzt. Högel selbst wird voraussichtlich am 1. März aussagen – als Zeuge. Lesen Sie hier:Niels Högel gesteht 100 Morde – Bedrückender Prozessauftakt

Es geht nicht nur um die mögliche Schuld einzelner Chefs, sondern um ein eventuelles Systemversagen. „Die Vermutung liegt nahe, dass das Profitdenken der Kliniken eine Rolle gespielt hat“, glaubt der Autor Marco Seng („Der Todespfleger“, Goldmann). Der Prozess werde womöglich „weitere erschütternde Details ans Tageslicht bringen“.