Berlin. Kinderlähmung galt in Europa als besiegt. Doch nach dem Fund von Polio-Viren im Abwasser schlägt das Londoner Gesundheitssystem Alarm.

Am 21. Juni 2022, war es genau 20 Jahre her: Im Jahr 2002 hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO Europa für polio-frei erklärte. Doch nun schlägt London nach dem Fund von Polio-Erregern im Abwasser Alarm. Die Gesundheitsbehörden haben nun einen nationalen Vorfall ausgerufen und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über die Situation informiert. Eltern sind besorgt.

Großbritannien ist sogar noch länger als zwanzig Jahre poliofrei: Der letzte Fall von Kinderlähmung wurde 1984 entdeckt. Doch nach fast 40 Jahren ist das Virus zurück. Das Vereinigte Königreich läuft sogar Gefahr, seinen poliofrei-Status bei der WHO einzubüßen. Seit Kurzem häufen sich in Großbritannien Fälle der seltenen Virusinfektion.

Das Virus, das Polio verursacht, wurde in einer besorgniserregenden Anzahl von Abwasserproben in London nachgewiesen, sagten Gesundheitsbeamte. Die Krankheit war in den 1950er Jahren in Großbritannien verbreitet, wurde aber bis 2003 eliminiert.

In den letzten vier Monaten hat die UK Health Security Agency (UKHSA) das Polio-Virus in Proben gefunden, die von der einer Kläranlage entnommen wurden, die eine Bevölkerung von vier Millionen im Norden und Osten Londons versorg. Laut UKHSA sei das Virus offenbar von jemandem nach London importiert wurde, der kürzlich im Ausland mit einer lebenden Form des Virus geimpft wurde.

Polio: Vollen Immunisierungsschutz bei Kindern sicherstellen

Eltern in Großbritannien sind besorgt. Doch die Ärzte wollen beruhigen: Sind die Kinder geimpft, sei das Risiko zu erkranken, äußerst gering. Allerdings sollten sie sicherstellen, ob der Immunschutz auch vollständig ist.

Der größte Teil der britischen Bevölkerung sei durch Impfungen in der Kindheit geschützt, aber in einigen Gemeinden mit geringer Impfabdeckung können Einzelpersonen gefährdet bleiben, so Dr. Vanessa Saliba, Epidemiologin an der UKHSA.

Immunisierung – Deutschland empfiehlt Sechsfach-Impfung

So läuft die Immunisierung ab:

  • Ein inaktivierter Polio-Impfstoff wird in Großbritannien als Teil des routinemäßigen Kinderprogramms verwendet.
  • Es wird Kindern dreimal vor dem Alter von einem und dann wieder im Alter von drei und 14 Jahren gegeben.

Die Aufnahme der ersten drei Dosen liegt in London bei etwa 86 Prozent und damit deutlich unter dem Zielwert, während der Rest des Vereinigten Königreichs über 92 Prozent liegt.

Für den deutschen Markt sind unterschiedliche Polioimpfstoffe mit unterschiedlichen Impfstoffschemata zugelassen. Als Polio-Impfstoff für die Routine-Impfung wird in Deutschland gemäß STIKO nur noch IPV (Inaktivierte -Polio-Vakzine) empfohlen. Die Grundimmunisierung beginnt entsprechend dem STIKO-Impfkalender im Alter von zwei Monaten. Empfohlen wird eine Sechsfach-Immunisierung (Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis, Haemophilus influenzae Typ b und Hepatitis B)a im Alter von zwei, vier und elf Monaten.

Zwischen der letzten und vorletzten Impfstoffdosis im Rahmen der Grundimmunisierung sollte der Mindestabstand von sechs Monaten nicht unterschritten werden. Im Alter von 9-16 Jahren wird eine Auffrischimpfung mit einem IPV-haltigen Impfstoff empfohlen. Die früher übliche Schluckimpfung gegen Kinderlähmung mit abgeschwächten Lebendviren wird seit 1998 von der STIKO nicht mehr empfohlen. Der Grund ist ein, wenn auch sehr geringes, Infektionsrisiko.

Polio: Das Virus gelangt über den Stuhl ins Abwasser

Wie die Erreger ins Abwasser gelangen, erklären Experte so: Eine Person, die im Ausland mit Lebend-Impftoff versorgt wurde, habe das Virus ausgeschieden. In seltenen Fällen kann diese Form des Virus dann auf andere übertragen werden und bei Nicht-Geimpften schwere Lähmungen verursachen. Es sei zwar üblich, dass eine winzige Anzahl von Proben des Poliovirus im Abwasser achgewiesen werden, aber dies ist das erste Mal, „dass ein Cluster von genetisch verknüpften Proben wiederholt über einen Zeitraum von Monaten gefunden wurde“.

Der letzte bekannte Polio-Fall war Melik Minas. Das Kind, es war nicht mal drei Jahre alt, als er sich 1998 in der Türkei mit dem heimtückischen Poliovirus ansteckte. Der Junge war nicht geimpft und bekam Kinderlähmung in voller Ausprägung. Melik, der sich nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) später etwas erholte, erlangte Berühmtheit: Er war der offiziell letzte Fall von Polio in Europa. Wenige Jahre später, am 21. Juni 2002, erklärte die WHO ihre Europa-Region mit mehr als 50 Ländern für polio-frei.

Der 20. Jahrestag wurde als Meilenstein gefeiert – aber es sieht nicht in aller Welt rosig aus. Immer neue Konflikte, die Vertreibung von Bevölkerungen, Migration und die Corona-Pandemie dürften es in weitere Ferne gerückt haben.

Routine-Impfungen, zu denen auch Polio gehört, seien in den Pandemie-Jahren in vielen Ländern unterbrochen worden, sagt Oliver Rosenbauer von der Polio-Ausrottungsinitiative der WHO in Genf. „In einigen Regionen sind Kinder nun einem höheren Risiko durch Infektionen wie Polio ausgesetzt“, sagt er. „Dadurch steigt auch das Risiko, das Polio sich international wieder ausbreitet.“

Polio-Erreger können schwere Lähmungen auslösen und sogar zum Tod führen

Polio – oder auch Kinderlähmung – ist eine ansteckende Infektionskrankheit, die Lähmungen auslösen und sogar zum Tod führen kann. Vor allem bei Kleinkindern können dauerhafte Schäden bleiben. Verbreitet wird das hoch ansteckende Virus oft über verunreinigtes Wasser. Eine vollständige Heilung gibt es bisher nicht.

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In den vergangenen zehn Jahren wurden nach WHO-Angaben rund zehn Milliarden Impfdosen verabreicht. Ohne diesen Einsatz hätten nach ihren Angaben 6,5 Millionen Kinder Kinderlähmung bekommen.

Das Risiko einer neuen Ausbreitung in zur Zeit poliofreien Ländern ist real, so Experten. Bis vor Kurzem zirkulierte das Virus praktisch nur noch in Pakistan und Afghanistan, mit je einer Handvoll Fällen. Aber in diesem Jahr wurden erstmals seit 2016 wieder Fälle in Malawi gemeldet, und in Mosambik, eingeschleppt vermutlich aus Pakistan. Afrika war erst 2020 als polio-frei deklariert worden.

Vereinzelte Fälle auch in Deutschland

Auch in der WHO-Europaregion, die sich von Turkmenistan bis nach Israel erstreckt, kommt es immer mal zu vereinzelten Fällen. So gab es nach Angaben des Robert-Koch-Instituts in Deutschland Anfang der 90er Jahre drei Fälle, die aber keine Ausbreitung nach sich zogen.

Weltweit waren es nach WHO-Angaben in zehn Jahren weniger als 800 Fälle. In Deutschland empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) deshalb seit 1998 den Einsatz inaktivierter Polio-Vakzine.

4,8 Milliarden Dollar werden benötigt, um Polio endgültig zu besiegen

Die WHO arbeitet mit Hochdruck an einer Endstrategie. Bis 2026 sollen jedes Jahr 370 Millionen Kinder in 50 Ländern geimpft werden. Dazu sind 4,8 Milliarden Dollar nötig, die im Oktober bei einer Geberkonferenz in Berlin zusammenkommen sollen. Die Bundesregierung gehört zu den größten Geldgebern der Polioausrottungsinitiative (GPEI). Damit soll auch das letzte Kind in der abgelegensten Region erreicht und Polio ein für alle mal von der Erde verbannt werden.

Dieser Artikel ist zuerst auf morgenpost.de erschienen.