Washington/St. Louis. Nach 10.000 Nächten hinter Gittern frei: Der US-Fall Bobby Bostic wirft ein grelles Licht auf endlos lange Haftstrafen für Teenager.

Eines seiner vielen Bücher, die er hinter Gittern und nachgeholtem Schul-Abschluss auf einer klapprigen Schreibmaschine getippt hat, trägt den prosaischen Titel: „Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach' Limonade.” Nach fast 10.000 Nächten im Gefängnis versucht Bobby Bostic seit wenigen Wochen diesen Sinnspruch in Freiheit mit Leben zu füllen.

Nicht ganz einfach. Alles so neu und anders für einen, der als Teenager in den Neunzigern für, kein Tippfehler, 241 Jahre weggesperrt wurde. Und der rund 27 Jahre später durch eine selten glückliche Fügung in die Welt vor dem Wachturm zurückkehren durfte.

USA: Teenager für 241 Jahre weggesperrt

Letzte Woche sah der 44-jährige Veganer aus St. Louis, der in Haft Körper und Geist vor Verwahrlosung, Drogen und Depressionen hermetisch abgeriegelt hat, live sein erstes NBA-Basketball-Spiel und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Das Leben ist ein Haufen erster Male für mich. Und ich bin sehr dankbar.”

Zwei Dinge, die äußerst selten sind im amerikanischen Justiz-System, kamen zusammen. In Person von Evelyn Baker machte sich die Richterin, die Bostic 1997 mit martialischen Worten für 17 Straftaten de facto zum Tode verurteilt hatte („Du wirst hinter Gittern sterben”), zur vehementesten Fürsprecherin einer Revision des Urteils.

Außerdem reformierte der für beinharte Law-and-Order-Politik bekannte Bundesstaat Missouri im vergangenen Jahr ein Gesetz. Seither ist es verboten, jugendliche Straftäter durch exzessiv lange Haftstrafen die Möglichkeit einer Begnadigung zu rauben. Auch interessant: USA: Fünf Polizisten in Memphis wegen Totschlags angeklagt

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Teenager Bostic für 17 Straftaten verurteilt

Es war keine Kleinigkeit, die sich Bostic und sein damaliger Freund Donald Hutson 1995 leisteten. Nach ausgiebigem Gin-Gelage und PCP-Konsum, ein synthetisches Halluzinogen, gingen die Halbstarken auf Raubzug.

Sie stahlen Weihnachtsgeschenke von einer Organisation, die Bedürftigen hilft, ballerten herum und klauten einer Frau unter vorgehaltener Pistole das Auto. Ernsthaft verletzt wurde niemand. Lesen Sie dazu: Amok und Terror: Hilft ein schärferes Waffenrecht wirklich?

Nach der Festnahme bot die Staatsanwaltschaft dem damals 16-jährigen Bostic einen klassischen Deal an: 30 Jahre Haft mit der Aussicht auf Bewährung, wenn er sich schuldig bekennt.

Bostic lehnte ab, ließ es auf einen Prozess ankommen und verlor krachend. Richterin Baker versuchte erst gar nicht zu verbergen, dass sie an dem jungen Schwarzen ein Exempel statuieren wollte. Sie kumulierte die 17 Straftaten zu fast einem Viertel-Jahrtausend Haft.

USA: Oberstes Gericht in Washington mit neuem Justiz-System

2010 dann stellte das Oberste Gericht in Washington Leuten wie Bostic eine Rettungsleine in Aussicht. Danach dürfen Heranwachsende, die keine Kapitalverbrechen (Mord, Totschlag etc.) begangen haben, nicht mehr lebenslänglich ohne jede Chance auf Resozialisierung weggesperrt werden. Seit 2016 gilt das auch rückwirkend für Fälle wie den von Bostic.

Allein, der Bundesstaat Missouri verweigerte die Umsetzung. Mit der zynischen Begründung, Bostic habe ja im „extrem hohen Alter” von 112 die Chance, einen Gnadengesuch zu stellen.

Bostic, so erinnerte er sich im Gespräch mit der Zeitung „St. Louis Dispatch”, war am Boden zerstört. Aber er gab nicht auf. In der Hoffnung, dass sich doch noch ein Fenster öffnet.

Das geschah im Frühjahr 2021. Missouris Gouverneur Mike Parson unterzeichnete ein Gesetz („Bobby`s Law”), das Häftlingen wie Bostic das Recht zugestand, um Begnadigung zu bitten. Und da war ja auch noch Evelyn Baker.

US-Richterin gesteht „ungerechtes” Urteil

Die 1983 als erste schwarze Frau in Missouri ins Richteramt gelangte Juristin hatte 2010 damit begonnen, den Fall Bostic selbstkritisch im Licht neuer Forschung über die Gehirn-Kapazitäten der Gehirne von Teenagern und Erwachsenen zu überprüfen.

Die als streng bekannt gewesene Richterin streute sich in einem Aufsehen erregenden Artikel in der „Washington Post" Asche aufs Haupt. Ihr Urteil sei „geistig umnachtet” und „ungerecht” gewesen, schrieb sie.

Baker freundete sich mit Bostic und dessen Schwester an. „Ich habe gesehen, dass er von einem jugendlichen Straftäter zu einem nachdenklichen, fürsorgenden Erwachsenen geworden ist”.

Gemeinsam mit einem der Opfer von Bostics Raubzug in den Neunzigern wurde Baker zur größten Unterstützerin einer Begnadigung.

Bobby Bostic: Ex-Straftäter wird Wohltäter

Ein Jahr nach der entscheidenden Anhörung vor dem Bewährungs-Ausschuss, das war im November vergangenen Jahres, schloss sie Bobby Bostic nach der Freilassung aus der Haftanstalt vor Glück weinend in die Arme.

Seither versucht Bobby Bostic – siehe oben – das mit den Zitronen und der Limonade. Mit seiner Schwester leitet er eine Wohltätigkeits-Organisation für sozial Schwache in St. Louis. Im Gefängnis bietet er Schreib-Workshops an.

Das Geld reicht noch nicht für mehr als eine Ein-Zimmer-Wohnung. Aber Bostic wirkt zufrieden. Ein Wannen-Bad. Ein gut gefüllter Kühlschrank. Freundliche Menschen um ihn herum. Die kleinen Sensationen des Alltags. „Das Leben hier draußen ist wunderschön”, sagt Bobby Bostic, „jeden Tag.”