Berlin/Brüssel. Erneut haben viele deutsche Kommunen die Stickoxid-Grenzwerte gerissen. Neue Zahlen befeuern allerdings die Debatte um deren Sinn.

Schon wieder durchgefallen: Deutschland hat es auch 2018 nicht geschafft, die Stickoxid-Grenzwerte flächendeckend einzuhalten. In mindestens 35 Städten wurde der EU-Grenzwert für gesundheitsschädliches Stickstoffdioxid (NO2) im vergangenen Jahr überschritten, wie aus einer ersten Bilanz des Umweltbundesamts (Uba) hervorgeht, die am Donnerstag veröffentlicht wurde.

Erst vergangene Woche war die Diskussion über die geltenden Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide neu entbrannt, nachdem eine Gruppe von rund 100 deutschen Lungenärzten sie als unwissenschaftlich kritisiert hatte. Ihre Stellungnahme stieß allerdings sowohl in Deutschland als auch international auf viel Widerspruch – nicht nur von Fachkollegen.

Die höchste Belastung bundesweit hatte Stuttgart

Die nun vorgelegten Zahlen liefern der Debatte neuen Zündstoff. Die höchste Belastung hatte demnach Stuttgart mit 71 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft vor München mit 66 Mikrogramm. Der EU-Richtwert liegt bei 40 Mikrogramm.

Berlin überschreitet noch an mindestens fünf Messstellen die EU-Grenzwerte für Stickstoffdioxid. Am dreckigsten ist die Luft nach Daten des Umweltbundesamts an der Neuköllner Silbersteinstraße, wo im Jahresmittel 49 Mikrogramm des Umweltgifts in einem Kubikmeter Luft gemessen wurden.

Die Frankfurter Allee liegt erstmals seit Jahren unter dem Grenzwert

Auch die Karl-Marx-Straße (Neukölln), die Schildhornstraße (Steglitz), der Hardenbergplatz (Charlottenburg) und der Mariendorfer Damm (Mariendorf) lagen trotz Verbesserungen noch über dem EU-Grenzwert.

Die Frankfurter Allee in Friedrichshain kam mit einem Wert von 37 erstmals seit Jahren darunter, wie die Dessauer Behörde am Donnerstag mitteilte. Am geringsten waren die Werte am Stadtrand. Messstellen in Friedrichshagen und Frohnau zeigten im Jahresmittel 12 Mikrogramm Stickstoffdioxid an.

Insgesamt ist die Belastung leicht gesunken

Die Zahl der Städte, die den EU-Richtwert überschreiten, könnte sich aber noch erhöhen. Denn für mehrere Städte liegen noch nicht alle Zahlen für 2018 vor – darunter 28 der 65 Städte, die 2017 über dem Grenzwert lagen. Die jetzt veröffentlichte Bilanz beruht auf Daten der Messstationen, die automatisch stündlich Werte liefern. Im Mai soll laut Uba dann die endgültige Bilanz folgen.

Ein leicht rückläufiger Trend ist dennoch auszumachen: Im Vergleich zum Vorjahr sank die Luftbelastung mit Stickstoffdioxid 2018 im Mittel um etwa zwei Mikrogramm pro Kubikmeter an verkehrsnahen Messstationen. Für den Rückgang sieht das Uba mehrere Gründe wie Tempolimits, neuere Autos, Verkehrsbeschränkungen sowie Software-Updates zur besseren Abgasreinigung. Aber auch das Wetter könne eine Rolle spielen.

Diesel-Pkw sind laut Umweltbundesamt die Hauptquelle

Dass der seit 2010 verbindliche Grenzwert immer noch in vielen Städten überschritten wird, gefährde die Gesundheit der dort lebenden Menschen, sagte Uba-Präsidentin Maria Krautzberger.

Der Straßenverkehr sei die Hauptquelle, vor allem die Diesel-Pkw mit zu hohen Emissionen. „Nur saubere Autos bieten Sicherheit vor drohenden Fahrverboten“, so Krautzberger. „Mit den derzeitigen Maßnahmen dauert es einfach zu lange, bis wir überall saubere Luft haben.“

Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) wertete die neuen Daten als Zeichen, dass die bereits ergriffenen Maßnahmen zu wirken beginnen. In den hoch belasteten Städten seien aber nach wie vor Hardware-Nachrüstungen für Diesel-Autos nötig, um Fahrverbote zu vermeiden. Hier brauche es das „zupackende Vorangehen der Autoindus­trie“, so die Ministerin.

Scheuer fordert weiter eine Prüfung der Grenzwerte

Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) setzt dagegen weiter auf eine Änderung der Grenzwerte. In einem Brief an EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc, aus dem die „Bild“-Zeitung zitiert, dringt er auf eine Überprüfung der Vorgaben.

Tatsächlich läuft bereits ein Verfahren zur Überprüfung der Werte: Die entsprechende Richtlinie zur Luftqualität werde derzeit in einem Eignungstest bewertet sowie ihre Relevanz und Effizienz untersucht, sagte ein Sprecher der Kommission unserer Redaktion. Dabei werde auch geprüft, ob die Schadstoffgrenzwerte so festgelegt seien, dass sie zur Erreichung politischer Ziele beitragen.

Die Richtlinie zur Luftqualität wird einem Test unterzogen

Der Eignungstest soll Ende des Jahres abgeschlossen sein und der Kommission Informationen liefern, ob die Richtlinie geändert werden muss. Dass die Überprüfung allerdings so ausfällt, wie Scheuer sich das vorstellt, ist eher unwahrscheinlich.

Aussichtsreicher könnte Scheuers Vorstoß bei den EU-Verkehrsministern sein. In seinem Brief an Bulc kündigte er an, er werde die rumänische EU-Ratspräsidentschaft bitten, das Thema beim informellen Verkehrsministerrat am 26. und 27. März auf die Tagesordnung zu setzen.

Unterstützung kommt aus dem EU-Parlament

Auch Frankreich, Ungarn, Italien, Rumänien und Großbritannien sind von der EU-Kommission verklagt worden, weil sie Grenzwerte für Stickoxid oder Feinstaub nicht einhalten. Probleme haben zum Beispiel auch Tschechien, die Slowakei und Spanien, die einer Klage aber knapp entgangen sind.

Unterstützung erhält Scheuer bereits aus dem EU-Parlament. EVP-Fraktionschef Manfred Weber, der wie Scheuer der CSU angehört und im EU-Parlament die größte Fraktion anführt, fordert bereits, über eine Revision der Grenzwerte nachzudenken. Die beiden CDU-Europaabgeordneten Peter Liese und Norbert Lins fordern direkt die Kommission auf, auch intern die wissenschaftliche Diskussion über den Sinn der Grenzwerte zügig zu führen.