Washington. In Teilen der USA werden Menschen im Schnitt nicht mehr älter als 66 Jahre – damit liegt die Lebenserwartung hinter der im Libanon.

Man stelle sich vor, in Deutschland klaffte bei der Lebenserwartung von Menschen in Anklam in Mecklenburg-Vorpommern und Rottach-Egern in Bayern eine Lücke von sage und schreibe 20 Jahren. Das Ungleichgewicht hätte das Zeug zur Regierungskrise, Straßenprotesten, sozialen Unruhen. In den USA hält sich der Aufschrei über die Tatsache in Grenzen, dass Bewohner im indianisch geprägten und bitterarmen Oglala Lakota County in South Dakota im Schnitt mit 66 Jahren das Zeitliche segnen, während die sehnigen Ski-Rentner in Summit County, Colorado, erst mit 86 Jahren sterben.

Dieser Kontrast, den die Zahlen der staatlichen Gesundheitsbehörde CDC dokumentieren, ist nur ein Alarmsignal von vielen, wenn man den wichtigsten Maßstab für Lebensqualität anlegt: In einem der reichsten Länder der Welt, dessen überteuertes Gesundheitssystem Exzellenz und Elend bietet, wird tendenziell immer früher gestorben. Babys, die 2021 zur Welt kamen, haben nur noch eine Lebensperspektive von 76 Jahren. 2019, zwei Jahre zuvor und damit vor Ausbruch des Corona-Pandemie, waren es im Schnitt 79 Jahre.

Die Lebenserwartung in den USA liegt hinter der von Kuba, der tschechischen Republik und dem Libanon. Dabei sind es längst nicht mehr nur die Alten, die früher abtreten. Und Corona ist nicht der alleinige Grund. Zum ersten Mal in einem halben Jahrhundert sterben überproportional viele junge Menschen. „Das habe ich noch nie erlebt”, sagt der ehemalige Direktor des Zentrums für Gesellschaft und Gesundheit der Universität von Virginia, Steven Woolf, aus Richmond.

Eines von 25 Kindern erlebt statistisch den 40. Geburtstag nicht

Zwei Zahlen: Zwischen 2019 und 2021 gab es in der Altersklasse 1 bis 19 Jahre insgesamt einen Anstieg bei den Todesfällen von rund 20 Prozent. 39 Prozent mehr Tötungsdelikte und 113 Prozent mehr Drogen-Überdosierungen bei den 10-19-Jährigen ragten heraus. Der Analytiker John Burn-Murdoch hat das Ganze noch weiter verfeinert und ist dabei auf eine Horror-Entwicklung gestoßen: Eins von 25 US-Kindern, das heute fünf Jahre alt ist, sagt er, erlebt statistisch berechnet den 40. Geburtstag nicht.

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Ein Szenario, das kein anderes entwickeltes Industrieland aufweist. Hauptgründe: Drogen, Schusswaffen-Gewalt, Verkehrsunfälle. Dazu passt: Laut der Gesundheitsbehörde CDC starben 2021 rund 1200 Mütter und Kinder bei oder nach der Geburt - 40 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Sterblichkeitsrate in diesem Segment in den USA betrug 33 Todesfälle auf 100.000 Geburten; das Zehnfache von vergleichbaren Industrie-Nationen wie Australien, Israel, Japan, Spanien oder Österreich, wo zwei bis drei Todesfälle auf 100.000 Geburten zu verzeichnen waren.

Ein Obdachloser schläft in der New Yorker U-Bahn: Armut ist nur ein Faktor, der die Lebenserwartung in den USA negativ beeinflusst.
Ein Obdachloser schläft in der New Yorker U-Bahn: Armut ist nur ein Faktor, der die Lebenserwartung in den USA negativ beeinflusst. © Getty Images | Robert Nickelsberg

Und: Anders als im überwiegenden Rest der Welt, wo sich die Corona-bedingte Steigerung der Sterblichkeitsraten allmählich auflöst, geht es in Amerika weiter bergab. Experten des Gesundheitsriesen „Kaiser Family Foundation” stellen ernüchtert fest, dass 20 Jahre stetig gestiegene Lebenserwartung in den USA quasi über Nacht neutralisiert wurden.

Suizide sind in USA inzwischen zweithäufigste Todesursache

Bei der amerikanischen Misere ist eine parteipolitische Facette nicht zu leugnen. Vorwiegend republikanisch regierte Bundesstaaten wie South Carolina, Oklahoma, Arkansas, Tennessee, Kentucky, Alabama, Louisiana und West Virginia halten mit unter 75 Jahren Lebenserwartung die Schluss-Laterne. Im sozialen extrem schwachen Mississippi werden Männer statistisch gesehen nur noch 68,6 Jahre alt.

Dagegen liegen mehrheitlich demokratisch regierte Bundesstaaten wie Washington State, Minnesota, Oregon, Vermont, Connecticut, Kalifornien, New Hamsphire, Utah und Massachusetts mit durchschnittlich 79 Jahren vorne. Einsamer Spitzenreiter: Hawaii. Durchschnittliche Lebenserwartung hier: 80,7 Jahre. Frauen werden auf der beliebten Inselgruppe sogar 83,8 Jahre alt.

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All das hat laut Robert Shmerling, Gesundheits-Experte von der Harvard-Universität, auch mit ökonomischen Faktoren zu tun: „Amerikaner mit der kürzesten Lebenserwartung leben meist in Armut, haben zu wenig zu essen und kaum oder gar keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung.”

Der Nobelpreisträger Angus Deaton hatte das Phänomen bereits vor Jahren unter dem Begriff „Deaths of Despair“ – Tode der Verzweiflung – bilanziert. Danach gibt es insbesondere unter schlecht gebildeten Weißen eine wachsende Zahl von Suiziden, von Drogen-Überdosierungen und Alkoholismus samt Folgeerkrankungen wie Leberschäden. Suizide sind in der Altersklasse der 10- bis 34-Jährigen in Amerika inzwischen sogar die zweithäufigste Todesursache.