Brüssel. Rechtsaußen-Parteien könnten bei den Europawahlen zu den Gewinnern gehören. Die Folgen wären dramatisch – nicht nur beim Klimaschutz.

Vor den Europawahlen am 9. Juni richtet EU-Chefdiplomat Josep Borrell eine dringende Mahnung an die Bürger Europas. Die Abstimmung über die Sitzverteilung im Europäischen Parlament könne „so schicksalhaft werden wie die US-Präsidentschaftswahlen“ fünf Monate später, erklärt der EU-Außenbeauftragte.

Seine große Sorge gilt einem möglichen Rechtsruck in Europa: Die Bürger auf dem Kontinent fürchteten sich angesichts der vielen Krisen, so Borrell. Furcht und Unsicherheit aber könnten nach allen Erfahrungen dazu führen, dass rechtspopulistische Parteien mehr Zulauf bekämen.

Mit der Warnung vor einem Rechtsruck steht Borrell nicht allein. Auch unter führenden Abgeordneten im EU-Parlament ist bereits wieder von einer „Schicksalswahl“ für Europa die Rede.

„Wir müssen davon ausgehen, dass die rechten Parteien bei den Europawahlen einen nochmaligen Zuwachs erleben werden“, sagt auch der Bonner Parteienforscher Frank Decker unserer Redaktion. Europawahlen hätten „Blitzableiter-Charakter“ für die Innenpolitik. Das könne zum Beispiel in Deutschland der AfD zugutekommen.

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Die Wähler lassen sich, so zeigt es eine von der EU in Auftrag gegebene Umfrage in allen 27 EU-Staaten, bei dieser Abstimmung weniger von europapolitischen Fragen leiten. Sie blicken vielmehr auf ihre eigene wirtschaftliche Situation und entsprechende Zukunftssorgen.

Laut dem jüngsten Eurobarometer erwarten drei Viertel der EU-Bürger, dass ihr Lebensstandard sinken wird, ein Drittel hat Probleme, Rechnungen zu bezahlen. Die Frage ist nur, wie sehr die Verunsicherung tatsächlich Rechtsaußen-Kräfte stärkt. Bislang sagen ihnen alle Umfragen zwar erhebliche Zuwächse voraus – folgt man den Demoskopen, wird sich der Machtgewinn von Ultrarechten aber in Grenzen halten.

Rechtsextreme im EU-Parlament: Von Gestaltungsmacht weit entfernt

Im neu gewählten EU-Parlament dürften die beiden rechten Fraktionen Identität und Demokratie (ID), der auch die AfD-Abgeordneten angehören, und Europäische Konservative und Reformer (EKR), der sich etwa die ultrarechte Fratelli d‘Italia der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni angeschlossen hat, nach aktuellen Prognosen 175 der künftig 720 Sitze auf sich vereinen; zusammen mit den Mandaten der ungarischen Regierungspartei Fidesz dürfte Rechtsaußen auf über ein Viertel der Sitze kommen. Das reicht für Störmanöver im Parlament – von einer Gestaltungsmacht aber wären Rechtspopulisten und Rechtsextreme damit noch immer weit entfernt.

Viktor Orban (r.), Ministerpräsident von Ungarn, spricht während eines EU-Gipfels mit Giorgia Meloni (l.), Ministerpräsidentin von Italien. Im Hintergrund der damalige Ministerpräsident von Polen, Mateusz Morawiecki, der im Dezember sein Amt verlor.
Viktor Orban (r.), Ministerpräsident von Ungarn, spricht während eines EU-Gipfels mit Giorgia Meloni (l.), Ministerpräsidentin von Italien. Im Hintergrund der damalige Ministerpräsident von Polen, Mateusz Morawiecki, der im Dezember sein Amt verlor. © Geert Vanden Wijngaert/AP/dpa | Unbekannt

Ohnehin sind die Rechtsaußen-Kräfte in zentralen Fragen völlig uneins, eine europäische Allianz der Nationalisten stößt naturgemäß an Grenzen, nicht zuletzt in der Migrationspolitik. „Der Fraktionszusammenhalt ist bei den beiden Rechtsfraktionen am geringsten“, sagt Parteienforscher Decker. „Deren Mitglieder orientieren sich stark an den oft unterschiedlichen nationalen Interessen ihrer Länder. Der gemeinsame Nenner ist ihre nationale Orientierung und die Skepsis gegenüber weiterer europäischer Integration – das erschwert ihnen natürlich, gemeinsam schlagkräftig aufzutreten.“

Bedeutsamer als die Mandatszuwächse im EU-Parlament dürften daher wohl Erfolge in einzelnen EU-Staaten werden: In Deutschland taxieren Demoskopen die AfD zur Europawahl auf 23 bis 25 Prozent – das würde die deutsche Innenpolitik heftiger erschüttern als die europäische Politik.

In Frankreich wird Marine Le Pens rechte Partei Rassemblement National (RN) wahrscheinlich sogar stärkste Partei werden. Europaweit würde andererseits die Mitte schwächer: Die christdemokratische EVP wird nach allen bisherigen Prognosen moderate Verluste erleiden, aber stärkste Kraft bleiben.

EVP-Chef Weber will die „europäische Ampel“ abgewählt sehen

Größere Einbußen müssten Sozialdemokraten und Liberale hinnehmen und ganz besonders die Grünen. Die Machtbalance im Europaparlament könnte sich damit verschieben: Die Christdemokraten sind der Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten und Liberalen ohnehin müde und auf der Suche nach neuen Mehrheiten.

Eines seiner Ziele sei, dass die „europäische Ampel“ abgewählt werden müsse, sagt EVP-Fraktionschef und CSU-Spitzenkandidat Manfred Weber. Entsprechend groß ist vor allem in der linken Mitte die Befürchtung, die EVP könne mit den Stimmen der rechten Fraktionen neue Klimagesetze blockieren oder Entscheidungen aus dem Green Deal, dem schon beschlossenen Paket von Umweltgesetzen, zurückdrehen.

Manfred Weber ist Parteichef und Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) und Kritiker der „europäischen Ampel“.
Manfred Weber ist Parteichef und Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) und Kritiker der „europäischen Ampel“. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

„Auf die Konservativen ist kein Verlass“, sagt die deutsche SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley. Die EVP mache mit den Rechtspopulisten und Rechtsextremen „immer öfter gemeinsame Sache“, beklagt Barley unter Hinweis auf die Beinaheblockade eines wichtigen Naturschutzgesetzes. Genährt werden solche Vermutungen durch Ankündigungen Webers, seine Fraktion werde das beschlossene Verbot von Neuwagen mit Verbrennungsmotor ab 2035 kippen, wenn sie dafür eine Mehrheit herstellen könne. Weber hat schon Kontakt zu einzelnen Rechtsparteien gesucht, etwa zu Meloni und ihrer Partei Fratelli d‘Italia. Aber weder erwächst daraus eine belastbare Kooperation noch wäre damit allein eine neue Mehrheit in Sicht.

So ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich im EU-Parlament neue Lager bilden, dass es gar zu einem „Rollback“ beim Klima- und Umweltschutz kommt: Eine strategische Zusammenarbeit mit Rechtsaußen-Parteien ist in der EVP nicht mehrheitsfähig – sie dürfte gerade auch von CDU und CSU in Deutschland, die eine Brandmauer zur AfD beschwören, nicht akzeptiert werden.

EVP-Chef Weber spricht mit Blick auf die AfD von „Nazis und Neonazis“. Doch ist andererseits bei den Mitte-Parteien die Sorge groß, als ein Block wahrgenommen zu werden und so Wähler an die Ränder zu verlieren. Dass Christ- und Sozialdemokraten, auch Grüne und Liberale jetzt ihre Differenzen dramatisieren, ist wohl zum guten Teil Wahlkampftaktik, um das Profil zu schärfen und die eigenen Anhänger zu mobilisieren.

Nach vielen Krisen ist der umweltpolitische Ehrgeiz gebremst

Die Möglichkeiten des Parlaments für eine Kursänderung aber sind, selbst im Falle eines Rechtsrucks, beschränkt und deutlicher geringer als auf nationaler Ebene. Gesetze beschließen und ändern können die Abgeordneten nur zusammen mit dem Rat der 27 Mitgliedstaaten; zudem liegt die Initiative allein bei der Kommission, deren Mitglieder ebenfalls von den Regierungen der EU-Staaten nach Brüssel entsandt werden. Wie aber sieht es in den Mitgliedstaaten aus?

Der Wahlerfolg des islamfeindlichen Rechtspopulisten Geert Wilders in den Niederlanden vor sieben Wochen scheint zwar Befürchtungen zu bestätigen, dass Rechtsaußen-Parteien zunehmend Einfluss in nationalen Regierungen der EU bekommen, wie es zuletzt in Italien, Schweden und Finnland der Fall war. Doch gibt es auch gegenläufige Entwicklungen: In Polen wurde kurz vor Wilders‘ Erfolg die rechtskonservative PiS-Partei abgewählt.

Geert Wilders, Vorsitzender und einziges Mitglied der Partei für die Freiheit (PVV), wurde Wahlsieger bei den Parlamentswahlen in den Niederlanden im November 2023.
Geert Wilders, Vorsitzender und einziges Mitglied der Partei für die Freiheit (PVV), wurde Wahlsieger bei den Parlamentswahlen in den Niederlanden im November 2023. © DPA Images | Peter Dejong

Absehbar ist indes, dass in vielen europäischen Hauptstädten unter dem Eindruck der Multikrisenlage der umweltpolitische Ehrgeiz gebremst ist. So forderte der französische Präsident Emmanuel Macron schon eine „reglementarische Pause“ beim europäischen Klimaschutz. Die beschlossenen Regeln umsetzen, nicht gleich wieder neue Regeln beschließen – das sei die Devise, erläuterte später Premierministerin Élisabeth Borne in Paris. Auf diese Stimmung werden die nächste EU-Kommission und das Parlament Rücksicht nehmen müssen. Dass aber die Europawahlen einen grundlegenden Kurswechsel einleiten könnten, ist nach Lage der Dinge sehr unwahrscheinlich.