Berlin. Beim Gedenken anlässlich der Befreiung von Auschwitz stellt sich die Frage: Tun wir genug gegen Antisemitismus? Nein, meint Jörg Quoos.

Es sind nur 75 Jahre. 75 Jahre seit dem Ende einer Barbarei, die beispiellos bleibt. Die Gedenkfeiern anlässlich der Befreiung von Auschwitz nehmen uns mit auf eine schmerzhafte Zeitreise zum dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Der Jahrestag ist ein guter Anlass für eine schonungslose Bilanz. Was hat Deutschland, was hat die Welt aus dem Holocaust gelernt?

Dabei geht es nicht um Vergangenheitsbewältigung. Die Schuld an der industriellen Ermordung von sechs Millionen Menschen, unter ihnen 1,5 Millionen Kinder, kann man nicht bewältigen. Niemals. Unter dieses Kapitel kann kein Schlussstrich gezogen werden.

Wer dies versucht, beleidigt die Toten wie die Überlebenden. Aber man kann der Opfer gedenken und sich gleichzeitig ernsthaft fragen: Tun wir genug gegen den Hass, der Juden wieder entgegenschlägt? Und tun wir genug für die Lebenden? Die traurige Antwort lautet: Nein.

Unerträglich, dass ein deutscher Politiker das Naziregime zum „Vogelschiss“ umdeutet

Antisemitismus und Judenhass wachsen wieder – auch in Deutschland. Nur einer stabilen Holztür ist zu verdanken, dass es kurz vor dem Auschwitz-Gedenkjahr kein Blutbad unter betenden Juden gab. Der Bundespräsident hat Recht, wenn er vor den Staatsoberhäuptern der ganzen Welt diese Tat und andere schonungslos benennt.

Jörg Quoos, Chefredakteur der Funke Zentralredaktion.
Jörg Quoos, Chefredakteur der Funke Zentralredaktion. © Dirk Bruniecki | Dirk Bruniecki

All diese Vorfälle sind zutiefst beschämend und verpflichten uns, zu viel größeren Anstrengungen. Dazu gehört auch genauer hinzuhören, wenn mit Sprache Antisemitismus der Boden bereitet wird. Denn vor der Tat kommt das Wort und es gibt immer mehr, die unsere Toleranz austesten.

Diejenigen, die relativieren oder Schlussstriche ziehen wollen, verdienen noch härteren Widerstand. Es ist unerträglich, dass ein deutscher Politiker Hitler und die Nazis zum „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte umdeuten durfte und noch immer als Vertreter des Volkes im Bundestag sitzt.

Der Bundespräsident sprach in seiner eindrucksvollen Rede von der ausgestreckten Hand der Juden, für die er dankbar ist. Aber die lebenden Juden erwarten zu Recht einen entschlossenen Händedruck, echte Unterstützung – und mehr als aufrichtiges Gedenken. Dazu gehört, dass der Staat Israel unser besonderes Verständnis haben muss. Man muss die Politik des israelischen Regierungschefs Netanjahu nicht mögen. Aber es geht um ein Volk, das vom Greis bis zum Baby vernichtet werden sollte.

Das umzingelt von Feinden ist. Das auch heute noch von hochgerüsteten Staaten wie dem Iran ungestraft mit der Auslöschung bedroht werden darf. Ein solches Volk hat es verdient, dass man sein ganz spezielles Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz unterstützt. Und deshalb hat Frank-Walter Steinmeier Recht, wenn er in Yad Vashem erklärt: Wir stehen an der Seite Israels. (Lesen Sie hier die ganze Rede im Wortlaut)

Befreier von Auschwitz haben unter Blutzoll die Zivilisation gerettet

In Jerusalem ging es aber nicht nur um die Opfer und die Täter. Das Gedenken an den Holocaust brachte auch die Befreier zusammen – darunter Amerikaner, Russen, Briten und Franzosen. Sie alle Seite an Seite in Yad Vashem zu sehen, war ein Bild, das zuversichtlich macht.

Denn es zeigt: Es gibt gemeinsame Werte, die Generationen überdauern und stärker sind als der härteste politische Streit. Die Befreier von Auschwitz haben unter hohem Blutzoll vor 75 Jahren die Zivilisation gerettet. Das hat Premier Netanjahu zu Recht betont. Auch das darf Deutschland beim Umgang mit diesen Nationen und ihren gewählten Führern nie vergessen.