Tel Aviv. Israels Regierungschef Netanjahu hat es nicht geschafft, eine Koalition auf die Beine zu stellen. Jetzt kommt sein Rivale zum Zug.

Sobald Benny Gantz im Wahlkampf die Halle betrat, hielt es seine Anhänger nicht mehr auf den Sitzen: Junge wie Alte drängten sich so nah wie möglich an den hochgewachsenen Ex-General, der sich Hände schüttelnd seinen Weg durch die Menge bahnte.

„Ist Benny Gantz der Messias des politischen Systems Israels?“, hatte die „Jerusalem Post“ Anfang des Jahres gefragt. Kann er Premierminister Benjamin Netanjahu im Amt ablösen?

Tatsächlich mäkelten anfangs Anhänger wie Kritiker, dem 60-jährigen ehemaligen Armeechef fehle es an Biss und Charisma, um es mit Netanjahu aufzunehmen. Doch Gantz überraschte sie. Zwar hat er sein erklärtes Ziel, den Langzeit-Premier vom Thron zu stoßen, noch nicht erreicht – doch er ist ihm näher gekommen als viele Oppositionsführer vor ihm.

Keiner Institution vertrauen Israelis so sehr wie der Armee

Am Montag gab Netanjahu das Mandat zur Regierungsbildung zurück, nachdem es ihm in den Wochen nach der Parlamentswahl im September nicht gelungen war, eine Koalition zu bilden. Staatspräsident Reuven Rivlin reichte das Mandat umgehend an Gantz weiter.

Dessen Blau-Weiß-Partei kam zwar auf einen Sitz mehr als die Likud-Partei Netanjahus; weil dieser jedoch mehr potenzielle Bündnispartner hinter sich vereinen konnte, hatte der Präsident ihm den Vorzug gegeben. Im zweiten Anlauf kommt Gantz doch noch zum Zug.

Gantz wurde in Israel als Sohn einer ungarischen Holocaustüberlebenden und eines rumänischen Einwanderers geboren. Mit 18 Jahren trat er seinen Wehrdienst an, belegte einen Offizierskurs, kämpfte im Libanon. Stetig arbeitete er sich die Armeehierarchie hinauf, bis er 2011 – mit Zustimmung Netanjahus – zum Generalstabschef ernannt wurde, eine Position, die er bis 2015 hielt.

Keiner Institution vertrauen Israelis so sehr wie der Armee, ihre Anführer genießen höchstes Ansehen. Von diesem Vorteil konnte Gantz zehren, als er Ende 2018 die Partei „Widerstandskraft für Israel“ gründete, die er kurz darauf mit zwei weiteren Parteien zu „Blau und Weiß“ verschmolz.

Benny Gantz will große Siedlungsblöcke im Westjordanland erhalten

Gantz positioniert sich bewusst mittig, um Wähler auf beiden Seiten des politischen Spektrums anzulocken. Er verspricht dringend nötige Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Gesundheit sowie größere Freiheit in religiösen Fragen, etwa die Einführung der Zivilehe. Bisher haben religiöse Autoritäten das Monopol über Hochzeit und Scheidung.

Bei heikleren Fragen hält er sich jedoch bedeckt. So verweigert er eine Antwort darauf, ob er eine Zwei-Staaten-Lösung im Konflikt mit den Palästinensern befürworte. Entscheidend sei es, endlich wieder zu verhandeln, sagt er.

Die Positionen, die er bereits bezogen hat, dürften jedoch bei der Palästinenserführung auf Ablehnung stoßen: So verlangt er, dass Israel das Jordantal langfristig militärisch kontrolliert und große Siedlungsblöcke im Westjordanland behält und ausbaut.

Zugleich grenzt er sich von jenen rechten Politikern ab, die das Westjordanland gänzlich oder größtenteils annektieren wollen: Um die jüdische Mehrheit und zugleich die Demokratie zu erhalten, dürfe Israel langfristig kein anderes Volk kontrollieren.

Der Armee-Veteran kann auch über sich selbst lachen

Frühere Weggefährten aus der Armee beschreiben Gantz als uneitel, nahbar und zugewandt. Bei öffentlichen Auftritten zeigt er sich gelassen, zuweilen schlagfertig und bereit, über sich selbst zu lachen – etwa über sein Englisch, das trotz eines vierjährigen USA-Aufenthalts ein wenig holprig klingt.

Auf seinem Twitterprofil beschreibt er sich als Ehemann und Vater von vier Kindern, erst danach folgen frühere und heutige Titel. Während Netanjahus Lager ihn im Wahlkampf als psychisch instabil verunglimpfte, bemühte Gantz sich um einen zivilen Tonfall. „Ich hasse Herrn Netanjahu nicht“, sagte er wiederholt, „er hat große Dinge für dieses Land bewirkt.“

Kann dieser Mann Israels nächster Premier werden? Trotz seines respektablen Wahlerfolgs stehen seine Chancen schlecht. 28 Tage Zeit hat er, um eine Koalition zu schmieden. Doch nur zwei linke Parteien haben sich bisher offen hinter Gantz gestellt. Eine solche Koalition käme auf nur 44 Sitze – mindestens 61 sind jedoch für eine Mehrheit nötig.

Gantz will nicht mit Ultraorthodoxen koalieren

Gantz’ erklärtes Ziel ist deshalb eine große, säkulare Koalition aus Blau-Weiß, Likud und einigen kleineren Parteien unter Ausschluss der beiden ultraorthodoxen Parteien. Doch Netanjahu besteht darauf, die Religiösen in die kommende Koalition einzubinden; zudem will der Premier, dem eine Anklage wegen Korruption und Untreue droht, in seiner heiklen Lage nicht das Amt räumen.

Als wahrscheinlichste Option gelten derzeit Neuwahlen nach erfolglosen Verhandlungen. Spätestens danach wird sich zeigen, ob Gantz nur ein weiterer von diversen Oppositionsführern sein wird, die gegen Netanjahu scheiterten – oder ob er tatsächlich ein neues Kapital in Israels turbulenter Politgeschichte eröffnen kann.