Mexiko-Stadt/Brasilia. Jair Bolsonaro oder Luiz Inácio „Lula“ da Silva? Warum bei der Wahl am Sonntag mehr als die Zukunft Brasiliens auf dem Spiel steht.

Umweltexperten auf der ganzen Welt blicken gespannt auf die Stichwahl um die Präsidentschaft am Wochenende in Brasilien. Wird der radikal rechte Jair Bolsonaro wiedergewählt, wäre das für den globalen Klimaschutz verheerend.

Eine schnell fortschreitende Abholzung des Amazonas gilt dann als wahrscheinlich. Bolsonaro kündigte Anfang September vor der UN-Vollversammlung an, noch mehr Flächen des Regenwaldes für Landwirtschaft, Bergbau und Energiegewinnung erschließen zu wollen.

Brasilien: Regenwald besteht längst aus Fragmenten

Sein Herausforderer Luiz Inácio „Lula“ da Silva hingegen wäre vermutlich ein Verbündeter beim Versuch, den Anstieg der Erderwärmung zu stoppen. Darauf deuten seine Aussagen und jüngsten Entscheidungen hin. „Ich denke, Lula hat heute ein breiteres Verständnis dafür, was in Bezug auf den Klimawandel und die Rolle des Amazonas auf dem Spiel steht“, sagt die brasilianische Umweltikone Marina Silva.

Wie wichtig eine neue klimafreundliche Umweltpolitik im größten Land Lateinamerikas ist, hat der August noch einmal nachdrücklich gezeigt. Allein in diesem Monat wurden im brasilianischen Amazonasgebiet 33.116 Brände gezählt, die höchste monatliche Zahl seit 2010, wie das staatliche Nationale Institut für Weltraumforschung (INPE) mitteilte.

Ein Großteil dieser Feuer ist zur Brandrodung gelegt worden. Längst ist der größte Regenwald der Erde nicht mehr dicht und geschlossen, sondern besteht aus tausenden Fragmenten.

Brasilien: Noch ist die Wende für den Regenwald möglich

Geht die Zerstörung des Amazonas im aktuellen Tempo weiter, sei der „Tipping-Point“ bald erreicht, warnen Klimaexperten. Ab diesem Kipppunkt nimmt der Urwald durch weitere Abholzung unwiederbringlichen Schaden. Lokal sei es an manchen Stellen des Amazonas bereits so weit.

Nach Ansicht von Marcio Astrini, Generalsekretär der Klimabeobachtungsstelle „Observatório do Clima“, ist es aber noch möglich, den Schaden rückgängig zu machen. „Dafür muss Bolsonaro aber an der Regierung abgelöst werden.“

Die dringendste Maßnahme in der nahen Zukunft sei die Wiederaufnahme der Demarkierung indigener Gebiete und die Vertreibung „der Landräuber, die sich diese Gebiete mit Unterstützung der Bundesregierung in Brasilia angeeignet haben,“ unterstreicht Astrini.

Die Zukunft der grünen Lunge steht auf dem Spiel

Der Amazonas-Regenwald, der anderthalbmal die Fläche der Europäischen Union umfasst, erstreckt sich über neun Staaten. Allein 60 Prozent des Regenwaldes liegen in Brasilien, den nächsten großen Anteil hat Peru mit zwölf Prozent. Der Amazonas ist für ein stabiles Weltklima entscheidend. Ein gesunder Regenwald bindet Kohlenstoffdioxid (CO2) in der Luft, das für die Erderwärmung verantwortlich ist. Abgeholzte Wälder sind hingegen große Quelle für Treibhausemissionen.

Deshalb steht bei der Stichwahl am Sonntag auch das Schicksal der grünen Lunge des Planeten auf dem Spiel. Die fortschreitende Zerstörung des Regenwaldes spielt im Wahlkampf zwar nicht die Rolle, die das Thema angesichts der globalen Klimakrise verdient, aber vor allem Lula betont seine grüne Seite. Er versprach, den Raubbau am Amazonas und vor allem das Eindringen illegaler Holzfäller, Goldsucher und Viehzüchter zu stoppen.

Brasilien als wichtiger Akteur beim Klimaschutz

Die von Bolsonaro ausgebluteten Schutz- und Kontrollorgane wie die Umwelt- und Indigenenbehörden sollen wieder handlungsfähig werden. Dabei plant Lula aber dennoch eine nachhaltige Entwicklung des Amazonas-Gebiets, in dem immerhin 30 der 215 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer leben

Bereits in Lulas erster Amtszeit zwischen 2003 und 2011 konnte Brasilien die Entwaldung um knapp 80 Prozent reduzieren. Fielen 2004 noch 28.000 Quadratkilometer Regenwald der Abholzung zum Opfer, waren es zum Ende seines Mandats lediglich 4500 Quadratkilometer. Dadurch entwickelte sich Brasilien zu einem wichtigen Akteur beim weltweiten Klimaschutz.

17 Mal New York – so viel Regenwald verschwand in nur einem Jahr

Heute, zum Ende von Bolsonaros vierjähriger Amtszeit, ist Brasilien Klima-Paria Nummer eins. Seit seinem Amtsantritt 2019 stieg die Entwaldung laut INPE von 7500 auf über 13.000 Quadratkilometer im Jahr 2021. Zwischen 2020 und 2021 verschwand ein Gebiet des Regenwaldes, das siebzehn Mal der Größe New Yorks entspricht.

Stichwahl am Sonntag: Bleibt Jair Bolsonaro (r.) Präsident in Brasilien oder wird er von Luiz Inacio Lula da Silva (l.) abgelöst?
Stichwahl am Sonntag: Bleibt Jair Bolsonaro (r.) Präsident in Brasilien oder wird er von Luiz Inacio Lula da Silva (l.) abgelöst? © AFP | NELSON ALMEIDAEVARISTO SA

Lulas größter Trumpf für den Klimaschutz ist die Gewinnung von Marina Silva für sein Unterstützerteam. Die Gründerin der Grünen Partei war viele Jahre Lulas Verbündete, saß in seinen ersten Kabinetten als Umweltministerin, wandte sich aber 2008 wegen seiner Megaprojekte in der Amazonasregion von ihm ab.

Mit Silvas Rückkehr an seine Seite bekommt Lulas Wendung zum klimabewegten Kandidaten größere Glaubwürdigkeit.

Neue Naturschutzeinheiten sollen entstehen

Silva forciert eine kohlenstoffarme Landwirtschaft, die Abgrenzung neuer indigener Gebiete, die Stärkung von Umweltorganisationen und Schaffung weiterer Naturschutzeinheiten. Noch ist aber nicht klar, was Lula davon wirklich in sein Regierungsprogramm aufnehmen würde.

„Es ist nicht Aufgabe einer einzelnen Person, diese Idee eines Erlösers passt nicht zu der komplexen Realität, in der wir leben“, unterstreicht Marina Silva, „Aber ich glaube, dass er einen großen Beitrag leisten kann.“

Da Silva reiste in das abgelegene Amazonasgebiet

Der linke Kandidat baut beim Amazonasschutz aber auch auf internationale Unterstützung, vor allem die der EU. Außerdem will er die Millionen aus dem Amazonas-Fonds freigeben, der von Norwegen und Deutschland finanziert wird, und seit 2019 lahmgelegt ist. Bolsonaro stoppte den Fonds, weil er das Mitspracherecht von Nichtregierungsorganisationen nicht akzeptieren wollte.

Da Silva war Anfang September der erste der Kandidaten, der in das abgelegene Amazonasgebiet reiste. Bei Veranstaltungen in Manaus und Belém versprach er auch, gegen das Organisierte Verbrechen und die Schmugglerbanden vorzugehen, die sich des Gebietes bemächtigt hätten.

Amazonas als rechtsfreier Raum

Neben dem illegalen Raubbau am Wald werden inzwischen durch den Amazonas auch illegal gefangene Fische ebenso geschmuggelt wie Drogen. Im Grunde hat sich das riesige Gebiet unter Bolsonaro zu einem rechtsfreien Raum gewandelt.

Bolsonaros Wiederwahl wäre aus Sicht des „Observatório do Clima“ für den Amazonas und in der Folge das Weltklima desaströs. Vermutlich würden bis zum Ende seines Mandats 2027 zwischen 60.000 und 100.000 Quadratkilometer Regenwald verschwinden. Dann wäre der fatale „Tipping-Point“ in jedem Fall erreicht.

Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.