Mexiko-Stadt. Nach den Gewaltexzessen gerät die Rolle des Sicherheitapparats in den Blickpunkt. Oder zog Ex-Staatschef Jair Bolsonaro die Fäden?

Der Tag danach begann in Brasilia wie immer. Fast jedenfalls. Die U-Bahn fuhr, die Straßen waren verstopft in der Hauptstadt, die Menschen tranken an den Straßenständen ihren „cafezinho“, die Händler öffneten ihre Geschäfte.

Nur die Hubschrauber, die über die Stadt kreisten und die Sicherheitskräfte im Regierungsviertel und dem „Platz der Drei Gewalten“, den der Stararchitekt Óscar Niemeyer Ende der 1950er Jahre entwarf, zeugten am Montag von den Vorkommnissen einen Tag zuvor. Und die 1500 Randalierer und Vandalen, die von der Polizei vorläufig festgenommen wurden, erzählen ein wenig die Geschichte, dieses historischen Tages in Brasilia.

Der Oberste Gerichtshof befahl die Auflösung aller Zeltstädte der Bolsonaro-Anhänger

Für Entsetzen weit über die Landesgrenzen hinaus hatte der Sturm Tausender Krawallmacher auf das Regierungsviertel in Brasília am Sonntag gesorgt. Die Anhänger des rechten Ex-Präsidenten brachten dort kurzzeitig die Schaltzentralen der wichtigsten Staatsgewalten des Landes unter ihre Kontrolle: Sie drangen in den Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz Palácio do Planalto ein, randalierten in Büros und Sitzungssälen und hinterließen eine Spur der Zerstörung. Die Polizei wirkte völlig überrumpelt. Erst nach Stunden brachten die Sicherheitskräfte die Lage wieder unter Kontrolle. Der Zugang zu den beschädigten Gebäuden blieb am Tag danach eingeschränkt, während Ermittler die Schäden aufnahmen und Spuren sicherten.

Unterdessen war auch die Politik mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Präsident Lula da Silva hielt am Vormittag seine erste Kabinettssitzung ab, der Oberste Gerichtshof ordnete die Auflösung aller Zeltstädte der Bolsonaro-Anhänger an. Der Gouverneur des Bundesdistrikts, Ibaneis Rocha, wurde von seinem Amt suspendiert. Und so begann sich allmählich die Schockstarre zu lösen, die dieser Angriff auf die demokratischen Institutionen in dem wichtigsten Land Lateinamerikas am Sonntag ausgelöst hatte.

Lula versprach, diejenigen zu ermitteln und zu fassen, die hinter der Aktion stecken. „Im Namen der Verteidigung der Demokratie werden wir niemandem gegenüber autoritär sein, aber wir werden auch niemandem gegenüber lauwarm sein“, sagte Lula nach einem Treffen mit mehr als 20 Gouverneuren in Brasília am Montag im brasilianischen Fernsehen. „Wir werden das untersuchen und die Leute finden, die es finanziert haben.“ Im Fernsehen war auch zu sehen, wie Lula und Gouverneure am Abend vom Regierungssitz Palácio do Planalto zum Obersten Gerichtshof gingen.

Sind auch die Großlandwirte in den Gewaltexzesse verstrickt?

Zugleich wurden ersten Vermutungen der Hintergründe angestellt. Vor allem warfen Medien und Analysten die Frage auf, wie sehr der frühere Präsident Jair Bolsonaro in die Organisation des Coups vom Sonntag verstrickt ist. Hat er aus Florida, wo er ein Exil gefunden hat, die Fäden heimlich gezogen? Wie sehr sind die Polizeieinheiten loyal zu Bolsonaro? Vor allem die Militärpolizei und die Sicherheitskräfte der Hauptstadt fielen am Sonntag durch Untätigkeit und manche gar durch Unterstützung der Angreifer auf.

Andere filmten und applaudierten, als Tausende Randalierer auf die Sitze von Parlament, Regierung und Oberste Gerichtshof losmarschierten. Was ist mit den Großgrundbesitzern und Großlandwirten, die alle Bolsonaro treu ergeben sind? Sind sie eventuell auch in die Gewaltexzesse verstrickt? Klar ist, dass die Mehrzahl der Bolsonaro-Wähler friedlich ist, aber es gibt eine radikale und gar nicht so kleine Minderheit, die in ihrer wirren Welt lebt und Lula lieber heute als morgen gestürzt oder im Gefängnis oder auch tot sähe.

Es scheint klar, dass es sich bei den gewaltsamen Ausschreitungen um eine geplante und koordinierte Aktion handelt. Man bedenke nur, dass Andersen Torres, Bolsonaros früherer Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit, als Sicherheitschef des Hauptstadtdistrikts agierte. Wie Bolsonaro floh Torres gerade am Sonntag in die USA. Die Lula-Regierung will einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erwirken.

Der Verteidigungsminister wollte den offenen Konflikt mit dem Militär vermeiden

In der Regierung hatte es in den vergangenen Tagen Auseinandersetzungen darüber gegeben, wie man mit den Protesten umgehen solle: Justizminister Flávio Dino forcierte die Auflösung der Zeltstädte, weil sie „Terroristen-Nester“ seien.

Doch Verteidigungsminister Múcio konnte das verhindern. Er wollte offenbar einen offenen Konflikt mit den Militärs vermeiden. Auch Lula soll sich nach Medienberichten dagegen entschieden haben, den Ausnahmezustand auszurufen, weil dann automatisch das Militär zum Einsatz gekommen wäre. Aber er war sich vermutlich nicht sicher ob des Gehorsams.

Es ist offensichtlich, dass hohe Militärs, zum Teil frühere Minister Bolsonaros, die Proteste still unterstützen. Ex-General Walter Braga, Bolsonaros ehemaliger Leiter des Präsidialamts, ermunterte in den sozialen Netzwerken die Protestierer in den vergangenen Tagen noch.

Kommentar: Nicht nur in Brasilien: Demokratien sind verletzlich

Viele der Uniformierten unterstützen den Ex-Offizier Bolsonaro

Offensichtlich ist es Verteidigungsminister José Múcio auch noch nicht gelungen, die unter Bolsonaro an wichtige Machthebel aufgestiegenen Militärs wieder zurückzustutzen. Wie stark die Unterstützung für den Ex-Offizier Bolsonaro unter den Uniformierten weiterhin ist, konnte man am Sonntag bestens sehen.

Nach den Ausschreitungen sammelten sich einige der Aggressoren wieder vor der Garnison des Oberkommandos des Heeres in Brasilia. Dort genießen sie ganz offensichtlich die heimliche Solidarität der Militärs. Als die Polizei das Camp der Bolsonaro-Unterstützer stürmen wollte, stellten sich Soldaten dazwischen.

Am Sonntagabend hatte Lula einige Zeit gebraucht, um sich von dem Schreck des Angriffs zu erholen. „So etwas hat es in der Geschichte Brasiliens noch nie gegeben“, sagte der linksliberale Präsident, der erst seit einer Woche amtiert. Eine derartige Verachtung der Demokratie und der drei Gewalten Exekutive, Judikative und Legislative sei einmalig.

Präsident Lula hielt sich zur Zeit des Kongresssturms nicht in Brasilia, sondern ins Sao Pauo auf. Am Montag nahm er die Schäden in Augenschein.
Präsident Lula hielt sich zur Zeit des Kongresssturms nicht in Brasilia, sondern ins Sao Pauo auf. Am Montag nahm er die Schäden in Augenschein. © dpa | Eraldo Peres

Der Sturm auf die Institutionen der Demokratie wird noch lange nachwirken

Bolsonaro hatte bis zuletzt zu Protesten gegen das Wahlergebnis aufgerufen. Daher warf Lula seinem Vorgänger am Sonntag auch direkt vor, zu der „Invasion der drei Gewalten“ angestachelt zu haben. Bolsonaro hatte in dem erbitterten Wahlkampf immer wieder mit einem Vergleich mit dem Kapitol-Sturm in den Vereinigten Staaten kokettiert und behauptet, das brasilianische Volk werde sich „die Wahl nicht stehlen lassen“.

Der Sturm auf die Institutionen der Demokratie wird noch lange nachwirken und mindestens die kommenden Monate das Land und seine 215 Millionen Einwohner in Atem halten. Und es zeigt sich jetzt, dass der hart erkämpfte und äußerst knappe Wahlsieg Lulas vor gut zwei Monaten wohl die leichtere Aufgabe war – verglichen mit dem, was den Präsidenten in den kommenden vier Jahren als Staatschef erwarten wird.