Berlin. Der britische Premier besucht bei seiner ersten Auslandsreise Deutschland. Mit Merkel hat er viel zu besprechen. Vor allem: den Brexit.

Nur einmal gerät die Kanzlerin kurz außer Tritt. Angela Merkel will nach rechts, doch da läuft der britische Premierminister Boris Johnson. Sie hält kurz inne und weicht dann nach links aus. Dann gehen beide wieder im Gleichschritt. Merkel begrüßt den Regierungschef aus London am Mittwochabend im Kanzleramt mit militärischen Ehren. Es ist die erste Auslandsreise von Johnson seit seinem Amtsantritt.

Bei der anschließenden Pressekonferenz bewegen sich beide in unterschiedliche Richtungen. Man wünsche sich zwar einen „verhandelten Austritt“ der Briten aus der EU, sagt Merkel. Allerdings sei man auch auf einen Brexit ohne Vertrag vorbereitet. Johnson nimmt den Ball auf und kontert: „Auch wir wollen einen verhandelten Austritt. Wir schaffen das – das ist der Ausdruck –, nicht wahr?“

Johnson bei Merkel: Floskeln der politischen Höflichkeit

Dabei lächelt er verschmitzt Richtung Merkel. Es ist nicht klar, ob der Bezug auf den berühmten Satz der Kanzlerin mit Blick auf die Bewältigung der Flüchtlingskrise witzig, ironisch oder auch ein bissschen polemisch gemeint ist. Beide betonen jedoch ihren Willen zu enger Zusammenarbeit – sei es die Lage im Iran, in Russland oder China.

Doch dies sind vor allem Floskeln der politischen Höflichkeit. Zuvor hatte Merkel angekündigt, sie werde mit dem britischen Premier darüber reden, wie ein „möglichst friktionsfreier“ Ausstieg Großbritanniens erreicht werden könne. Das klingt abgeklärt, nüchtern, realistisch. Anders gesagt: Die Weichen sind gestellt. Der Zug fährt Richtung EU-Austritt.

Die Kanzlerin weiß, dass die Geschlossenheit der 27 restlichen EU-Mitgliedsstaaten unverzichtbar ist. Scheren ein oder zwei Länder aus, könnten andere auf die Idee kommen, Extrawürste einzufordern. Die Gemeinschaft wäre in ihrer Existenz gefährdet – und vermutlich am Ende.

Nordirland-Konflikt: Johnson hat keine Lust auf „Verknechtung“

Die Kernfrage, die die EU und Großbritannien spaltet, ist der sogenannte Backstop. Diese Notfall-Lösung geht von einem Prioritäten-Katalog aus. Für Brüssel ist es absolut notwendig, dass eine harte Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland vermieden wird.

Andernfalls bestehe die Gefahr, dass die religiösen Konflikte aus dem Bürgerkrieg in Nordirland wieder aufflammen. Um die Grenze offen zu halten, muss Großbritannien aus Brüsseler Sicht auf unbestimmte Zeit Mitglied in der EU-Zollunion bleiben, für Nordirland hätten Teile des EU-Binnenmarkts zu gelten. Johnson lehnt dies als „Verknechtung“ seines Landes ab. In Berlin sagt er am Mittwoch klipp und klar: „Der Backstop muss gestrichen werden.“

Der britische Premier, der trotz der Brexit-Abfuhr von Merkel nach Berlin gekommen ist, ist sich der Verhärtung der Fronten bewusst. Hinter seiner Visite in die deutsche Hauptstadt und am Donnerstag nach Paris steckt keine diplomatische Mission der letzten Chance, um doch noch einen Kompromiss zu erzielen.

Seine Vorgängerin Theresa May hatte im April noch versucht, in einer Betteltour nach Berlin und Paris Zugeständnisse herauszuschinden. Nicht so Johnson. Zu oft und zu unbeugsam hat er seine Alles-oder-nichts-Linie vertreten: Er wolle einen Brexit – „komme, was wolle“. Und wenn es sein müsse, am 31. Oktober eben ohne Vertrag.

Der Rest der 27 EU-Staaten muss geschlossen bleiben

Dabei fühlt er sich mit seinem Brachial-Kurs durch die jüngsten Meinungsumfragen bestätigt. Nach einer am Mittwoch veröffentlichten Online-Umfrage des Instituts Kantar konnte Johnsons Konservative Partei deutlich zulegen.

Die Torys kamen auf 42 Prozent Wählerzuspruch, 14 Prozentpunkte mehr als die oppositionelle Labour-Partei. Bei der jüngsten vergleichbaren Kantar-Umfrage im Mai lag Labour mit 34 Prozent noch vor den Konservativen, die damals bei lediglich 25 Prozent landeten. Das Institut machte als Grund für den starken Zugewinn der Torys Johnsons hartes Auftreten im Brexit-Streit aus.

Der britische Premier geht aufs Ganze. Und er ist bereits im Wahlkampfmodus. Er bringt sich für Neuwahlen in Position und arbeitet mit der Frontstellung: Großbritannien gegen die EU der 27.

Der große Sündenbock sitzt demnach in Brüssel, dessen „Mega-Bürokratie“ die Briten als „Kolonie“ kleinhalten wolle. Mit diesem Feindbild hat er bereits in der Brexit-Kampagne vor dem Referendum im Juni 2016 getrommelt. Sein damaliger PR-Stratege Dominic Cummings ist heute sein Chefberater.

Dringende Appelle – und taube Ohren

Doch die rosaroten Versprechungen der Brexit-Anhänger sind bislang nicht eingelöst worden. Der Lack der Londoner City, einst das europäische Finanzzentrum, blättert ab. Vermögensverwalter und Banken wanderten nach Irland oder auf das Festland. Auch in der bereits schwächelnden deutschen Wirtschaft werden die Alarmrufe immer lauter.

Zwar unterstützt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die harte Position in Brüssel und Berlin: Nachverhandlungen des Austrittsabkommens zwischen der EU und Großbritannien würden abgelehnt, erklärte BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang. Vielmehr gelte der ausgehandelte Vertrag. Gleichzeitig beschwor er Brüssel und London, den drohenden harten Brexit abzuwenden. Bei Johnson – so scheint es – stoßen derartige Appelle auf taube Ohren.

• Der Brexit könnte Online-Shopping für Deutsche billiger machen. Auch der Finanzplan Frankfurt profitiert vom Brexit. Bei einem Chaos-Brexit würden allerdings wohl auch Lebensmittel- und Benzinengpässe drohen.