Berlin. Verhandeln, koalieren, regieren? Der SPD fehlen für ein Bündnis der „Fortschrittsparteien“ noch die Partner – die Grünen und Liberalen.

Nach seinem Wahlsieg will Olaf Scholz zügig mit Grünen und FDP reden. Sondieren, verhandeln, koalieren. Mit einer Regierungsbildung möglichst bis Weihnachten. „Natürlich gibt es Kontakte“, verriet der SPD-Spitzenkandidat am Montag. „Das werden wir in aller Ruhe und Klarheit vorantreiben.“

Reihenfolge, Realisierungschancen, Format und Zeitplan der Gespräche blieben ebenso unkonkret wie der Teilnehmerkreis. Der Mann der Stunde hat kein Ass im Ärmel. Der SPD-Politiker lässt sich von einfachen Überlegungen leiten.

SPD: Jetzt sind Pragmatismus und Führungskunst gefragt

Erstens: SPD, Grüne und FDP haben Stimmen gewonnen – Union, AfD und Linke verloren. Niemand könne an dem Votum der Wählerinnen und Wähler „ohne Schaden vorbeigehen“, glaubt er.

Zweitens: Für eine sozial-ökologisch-liberale Koalition (Scholz) müssten die Partner nicht bei Null anfangen. Scholz erinnerte vor der Presse daran, dass seine Partei mit der FDP zwischen 1969 und 1982 „sehr erfolgreich“ regiert habe – und ebenfalls mit den Grünen zwischen 1998 und 2005. „Wenn drei Parteien, die den Fortschritt am Beginn der 20er Jahre im Blick haben, zusammenarbeiten, kann das etwas Gutes werden, selbst wenn sie dafür unterschiedliche Ausgangslagen haben“, warb Scholz.

Auf Landesebene sind Sozialdemokraten, Grüne und Liberale schon in Rheinland-Pfalz Bündnispartner. Die Berliner Wahlsiegerin Franziska Giffey (SPD) machte deutlich, dass eine „Ampel“-Koalition „natürlich“ auch „ein Weg“ für die Hauptstadt sein könnte.

Nach Ansicht von Scholz sind Pragmatismus und Führungskunst gefragt. Zum Pragmatismus gehört, keine rote Linien zu ziehen; nicht zu sagen, was nicht geht, obwohl jeder Genosse weiß, dass die Differenzen zur FDP in der Finanz- und Wohnungsbaupolitik und zu den Grünen beim Kohleausstieg groß sind. Scholz lieferte bloß Überschriften: Mehr Respekt, industrielle Modernisierung, den von Menschen gemachten Klimawandel aufhalten. Wer sollte das nicht auch unterschreiben können?

Kanzlerkandidat Scholz will eine Regierung, die auf Vertrauen basiert

Zur Führungskunst gehört, jeden Anschein von Überheblichkeit zu vermeiden: keine Koch-Kellner-Attitüde, stattdessen das Versprechen von Augenhöhe. „Völlig okay“ sei, dass Grüne und FDP sich untereinander abstimmen wollten, beteuerte Scholz. Jede Partei hatte Erwartungen geweckt. Für jede Partei sollte solch ein Bündnis auch einen Mehrwert haben – schon mit Blick auf das kommende Jahr, da Landtagswahlen im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein anstehen.

Einem gemeinsamen Vorgehen von Grünen und FDP kann Scholz auch deswegen viel abgewinnen, weil eine Regierung auf Vertrauen aufbauen muss. Das muss man unabhängig von einem Koalitionsvertrag sehen und schon die Aufgaben mit bedenken, „die man am Anfang gar nicht erkennen kann“.

Was er damit sagen will: Man kann wochenlang verhandeln und jedes Detail festlegen – und dann kommt eine Bankenkrise oder eine Pandemie. Da hilft nur, dass Partner einander vertrauen. „Ich möchte eine Regierung bilden, die auf Vertrauen beruht“, betonte der Kanzlerkandidat.

Die schwarz-gelbe Koalition zwischen Union und FDP zwischen 2009 und 2013 sei ein abschreckendes Beispiel gewesen, „daran erinnern sich viele in der FDP“. Und falls nicht, dann hatte sie Scholz sie gerade daran erinnert...

Scholz und die SPD setzen auf das Momentum – kein Wort zu Laschet

2013 war die FDP, obgleich Regierungspartei, nicht mehr in den Bundestag gewählt worden. Ihr heutiger Parteichef Christian Lindner hatte als Generalsekretär das Gefühl, dass die Liberalen neben der Union von Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht glänzen konnten.

Von den Anhängern erwartet Scholz, dass sie vom Wahlkampfmodus auf Kooperation umschalten und genauso wie er auf einen Erfolg der „Fortschrittsparteien“ fokussiert sind. „Keiner will schuld sein, wenn wir das Momentum verlieren“, beschreibt einer aus der Führung die Stimmung in den Gremien.

Auf die Union ging der Wahlsieger von sich aus weder im Präsidium noch im Vorstand oder vor der Presse ein; ganz so, als sei für ihn klar, dass die Geschlossenheit am Wahlabend nicht von Dauer sein würde. Im Verlauf der Sitzung haben sich Führungsmitglieder gegenseitig Meldungen aus der Union auf ihren Handys gezeigt, aus denen hervorging, dass Spitzenkandidat Armin Laschet in den CDU-Gremien massiv in der Kritik stand.

Vor Journalisten bemerkte Scholz, einige von ihnen seien bei der Union „embedded“. Der Begriff stammt von den US-Militärs aus dem ersten Irak-Krieg und bedeutet, dass Kriegsberichterstatter einer kämpfenden Einheit zugewiesen werden – eine ironische Anspielung darauf, dass die Medien in der eigentlich internen Auseinandersetzung in der Union keine Zaungäste waren.

Nach dem Aufwachen hatte Scholz am Morgen am Handy mit Genugtuung festgestellt, dass sich über Nacht nichts verändert hatte. Er war immer noch Wahlsieger. „Und ich hab mich dann noch mal gefreut“, erzählte er. Von Euphorie war bei ihm ansonsten wenig zu spüren – umso mehr von einem informellen Machtzuwachs.

Das Prinzip Hoffnung und das Gesetz der Serie in Pinneberg

Scholz ist zwar formal immer noch Finanzminister, Vize-Kanzler und Spitzenkandidat, aber über Nacht hat er eine Macht dazugewonnen, die in keinem Statut geregelt wird: Alle richten sich schon nach ihm. Er wird gefragt, wer SPD-Vorsitzender – er will es nicht – werden soll und ob Rolf Mützenich Fraktionschef bleiben soll. Darf er. „Wir sind uns einig, dass der jetzige Fraktionsvorsitzende ein ganz toller Mann ist“, sagte Scholz.

Mehrere Auslandskorrespondenten richteten Fragen an ihn, auch um sein Englisch zu testen. Scholz hat über die Schulden der EU geredet, über den Brexit, den Ukraine-Konflikt, die Gas-Pipeline „Nordstream 2“ und das Verhältnis zu Russland. Im Grunde wurden ihm bereits Kanzlerfragen gestellt.

Dabei ist er längst nicht im Amt. Die FDP hat eine Präferenz für Laschet. Bei den Grünen schauen viele Genossen argwöhnisch auf Parteichef Robert Habeck. Das Verhältnis zwischen beiden Parteien ist geprägt von Sympathie – und Konkurrenzdenken. Habeck ist jemand, dem Sozialdemokraten zutrauen, die SPD in die Schranken weisen zu wollen. Und so bleibt Scholz nur das Prinzip Hoffnung und das Gesetz der Serie in Pinneberg.

Das ist der norddeutsche Wahlkreis, der seit 68 Jahren immer von einem Bewerber geholt wird, dessen Partei auch die Kanzlerin oder den Kanzler stellt. Am Sonntag gewann hier Ralf Stegner. Ein Sozialdemokrat.