Berlin. Für Umweltministerin Steffi Lemke sind Artensterben und Klimawandel gleichwertige Probleme. Hier verrät sie, was sie verändern will.

Steffi Lemke ist noch nicht dazu gekommen, ihr Büro einzurichten. Die Schränke sind leer, die Wände kahl. Nur auf dem Besprechungstisch steht eine Schale mit Schokoladenkugeln, die ihre Amtsvorgängerin Svenja Schulze hinterlassen hat. Im Interview mit unserer Redaktion sagt die neue Umwelt- und Verbraucherschutzministerin und Grünen-Politikerin, wie sie die Artenvielfalt schützen will – auch vor dem Ausbau von Windrädern und Stromtrassen.

Frau Lemke, wie tragen Sie persönlich zum Umweltschutz bei?

Steffi Lemke: Da gibt es eine ganze Reihe von Dingen. Mülltrennung ist für uns alle inzwischen eine Selbstverständlichkeit und Abfallvermeidung sollte es auch bald sein. Mir liegt auch am Herzen, wie ich mich als Ministerin fortbewege. Ich versuche, so viel wie möglich mit dem Zug zu reisen - wie eben zur letzten Sitzung des Umweltministerrats nach Brüssel. Das wird sich wahrscheinlich nicht immer einrichten lassen. Eine wichtige Aufgabe der neuen Regierung ist es, solche Verbindungen angenehmer für die Bahnkunden zu gestalten.

Das Umweltministerium hat sein Herzstück verloren - den Klimaschutz hat Robert Habeck weitgehend ins Wirtschaftsministerium gezogen. Das kann Ihnen nicht gefallen.

Lemke: Ich muss Ihnen widersprechen. Das Umweltministerium hat viele Kernkompetenzen, für den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen Wasser, Boden, Luft zum Beispiel, aber auch für Dinge, die den Alltag der Menschen unmittelbar betreffen. Der Klimaschutz ist erst später hinzugekommen, seine Bedeutung ist dann zu Recht immer mehr gewachsen und nun ist er so entscheidend für den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen, dass wir das Thema auf mehrere Schultern verteilen. Das ist eine wichtige strategische Entscheidung dieser Regierung.

Sie reden den Bedeutungsverlust Ihres Hauses klein.

Lemke: Nein. Es gibt jetzt mehrere Klimaschutzministerien jeweils mit unterschiedlichen Zuständigkeiten, eines davon ist mein Haus. So hört das Gegeneinander der verschiedenen Ressorts auf. In meinem Haus verbleiben Klimavorsorge, Klimaanpassung und der natürliche Klimaschutz. Aufgaben, die gerade an Bedeutung wachsen. Wenn wir Moore und Auenwälder renaturieren und alte Waldbestände fördern, erhalten wir wertvolle Kohlenstoff-Speicher und schaffen eine Win-Win-Situation zwischen Klimaschutz und Naturschutz. Dafür lohnen sich Investitionen in erheblicher Größenordnung. Davon abgesehen bekommt mein Haus eine zusätzliche Staatssekretärin und ist jetzt auch für Verbraucherschutz zuständig.

Was hat Vorrang für die Ampelkoalition: Der Ausbau der erneuerbaren Energien mit Windrädern, Solaranlagen und Stromtrassen - oder der Natur- und Artenschutz?

Lemke: Robert Habeck weiß genauso gut wie Steffi Lemke, dass wir zwei große ökologische Krisen auf unserem Planeten haben, die gemeinsam gelöst werden müssen: die Klimakrise und die Krise des Artenaussterbens. Das eine ist genauso wichtig wie das andere. Beide Krisen bedrohen unsere natürlichen Lebensgrundlagen in ganz eklatantem Ausmaß. Dass es Zielkonflikte gibt, ist das Wesen von Politik. Aber diese Regierung ist angetreten, die Probleme zu lösen und nicht die Konflikte fortzuführen. Das Artenaussterben ist vor allem eine Folge der industrialisierten Landwirtschaft und der Zersiedelung unserer Landschaft. Ich bin nicht bereit, diese Bedrohung der Menschheit auf Windräder zu reduzieren. Das wäre eine völlige Verharmlosung des Problems.

Nehmen Sie es hin, dass Stromtrassen durch Naturschutzgebiete führen?

Lemke: Wir müssen an sehr vielen Stellschrauben ansetzen, wenn wir die Transformation der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens so gestalten wollen, dass unsere natürlichen Lebensgrundlagen erhalten bleiben. Dann geht es um sehr viel mehr als nur um die Frage, ob ein Stromtrassenbau die Artenvielfalt bedroht. Ich kann das genauso gut für den Autobahnbau oder den Braunkohleabbau sagen. Wir brauchen einen ganzheitlichen Blick auf den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen und müssen damit aufhören, das eine gegen das andere auszuspielen. Das ist eine so gigantische Aufgabe, dass wir uns nicht leisten können, künstliche Konflikte zu generieren.

Künstlich? Habecks Staatssekretär Sven Giegold hat schon gefordert, das Naturschutzecht der EU zu entschärfen, um Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen …

Lemke: Ich finde es gut, dass dazu eine Richtigstellung des Wirtschaftsministeriums erfolgt ist. Wir sind uns einig, dass die Klimakrise und das fortschreitende Artenaussterben gemeinsam gelöst werden müssen. Das europäische Naturschutzrecht wird von dieser Bundesregierung eins zu eins umgesetzt. So ist es auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Und es gibt genug andere Möglichkeiten, die Zielkonflikte zu bearbeiten.

Das Bienensterben hat die Bedeutung des Artenschutzes ins allgemeine Bewusstsein gerufen. Welchen Beitrag zum Insektenschutz erwarten Sie von der Landwirtschaft?

Lemke: SPD, Grüne und FDP haben vereinbart, den Pestizideinsatz zurückzuführen - besonders von insektenschädlichen Pestiziden. Wir wollen die Zulassungsverfahren verschärfen. Ich gehe nicht davon aus, dass wir innerhalb von vier Jahren komplett auf Pestizide verzichten können. Aber wir brauchen eine deutliche Verringerung, wenn wir das Insektensterben aufhalten wollen. Wir dürfen diesen Kampf um einen sehr entscheidenden Teil unseres Ökosystems nicht verlieren.

Damit kommen Sie in Konflikt mit dem grünen Landwirtschaftsminister. Cem Özdemir hat deutlich gemacht, dass er sich als Anwalt der Bäuerinnen und Bauern versteht.

Lemke: Ich denke nicht in Konflikten. Deshalb werde ich gemeinsam mit Cem Özdemir nach Lösungen suchen. Wir müssen die Pestizidreduktion gemeinsam mit den Landwirten durchführen.

Wie soll das gelingen?

Lemke: Wir können den Pestizideinsatz durch finanzielle Anreize, aber auch durch Ordnungsrecht verringern. Ich bin der festen Überzeugung, dass die meisten Landwirte weniger Pestizide verwenden wollen. Sie haben in der Regel ein großes Verständnis für biologische Zusammenhänge. Die Landwirte sind allerdings durch die europäische Agrarpolitik über Jahrzehnte in eine Zwangssituation hineingetrieben worden: Wachse oder weiche. Der Betrieb muss größer werden und mehr Ertrag abwerfen oder er wird von einem anderen aufgekauft. Dafür sind Milliarden an Steuergeldern jedes Jahr ausgegeben worden, ohne dass das Höfesterben aufgehalten worden ist - und ohne dass es eine Verbesserung gegeben hat für die biologische Vielfalt oder für unsere Gewässerqualität.

Also was tun?

Lemke: Wir müssen die ökonomischen Bedingungen für die Landwirtschaft verändern. Unter Beteiligung der Vorgängerregierung ist leider eine Fortführung der europäischen Agrarpolitik für die nächsten sieben Jahre beschlossen worden. Wir müssen dringend aussteigen aus diesem System der einfachen Flächenprämie, die ohne ökologische Gegenleistung gezahlt wird. Das muss die Ampelregierung in den nächsten vier Jahren vorbereiten. Nur so werden wir ausreichend gesunde und vielfältige Nahrungsmittel haben.

Klima: Das sind Treibhausgase

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    Für einen Systemwechsel brauchen Sie Verbündete in Europa.

    Lemke: Deutschland ist Bremser und Blockierer gewesen in den vergangenen Jahren. Ich erinnere nur an das Glyphosatverbot, das von dem frühreren Landwirtschaftsminister Christian Schmidt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhindert worden ist. Jetzt steht es im Koalitionsvertrag: ab 2023 darf in Deutschland kein Glyphosat mehr eingesetzt werden. Viele europäische Nachbarländer haben sich längst auf den Weg gemacht. Gemeinsam mit ihnen werden wir Lösungen finden.

    Unheil droht der Natur auch von der sozialdemokratischen Bauministerin Klara Geywitz, die jährlich 400.000 Wohnungen bauen will. Wie wirken Sie dem Flächenfraß entgegen?

    Wir brauchen mehr Wohnungsbau, das sehe ich ganz genauso. Ich hoffe aber, dass es diese Regierung schafft, die biologische Vielfalt stärker zu berücksichtigen, als das bisher der Fall gewesen ist. Es kann nicht darum gehen, Grünflächen in den Städten zu versiegeln. Wir sollten uns auf Flächen konzentrieren, die für den Artenschutz nicht so bedeutend sind. Ich rate auch davon ab, alles über Neubau abzuwickeln.

    Man könnte zum Beispiel über bessere Nutzungskonzepte für leerstehende Häuser, übrigens auch Gewerbegebäude, nachdenken, die es in vielen ländlichen Gebieten gibt – oft mit guter Bahnverbindung in die Stadt. Und natürlich müssen wir anders bauen: Gründächer, grüne Fassaden, mehr Heimstätten für Gebäudebrüter und mehr Aufmerksamkeit um Vogelschlag den Fensterfronten zu verhindern. Auch hier gilt doch: die Welt ist nicht schwarz weiß.

    Sie stehen auch im Konflikt mit sich selbst, Frau Lemke. Umweltschutz und Verbraucherschutz passen nicht unbedingt zusammen

    Lemke: Das passt großartig zusammen. Die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen ist in meinem Verständnis auch Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir alle nutzen Natur - sei es zur Erholung, sei es zur Lebensmittelerzeugung. Ich sehe es als meine Aufgabe an, das ökologische Potenzial im Verbraucherschutz zu heben.

    Läuft es darauf hinaus, nur noch umweltverträgliche Produkte zu erlauben?

    Lemke: Es geht darum, langlebigere Produkte von der Industrie einzufordern. Wenn möglich, werden wir den Herstellern auch Vorschriften machen. Wir haben Rückenwind von der EU durch die Ökodesign-Richtlinie. Im Koalitionsvertrag haben wir ein Recht auf Reparatur verankert, das wir im neuen Jahr auf den Weg bringen werden. Wir wollen gewährleisten, dass Produkte repariert werden können. Wenn der Hersteller die Lebensdauer eines Kühlschranks oder einer Waschmaschine mit zehn Jahren angibt, müssen Ersatzteile für diesen Zeitraum vorhanden sein. Wenn Einzelteile kaputtgehen, darf nicht das ganze Gerät vernichtet werden.

    Ist das Konsens in der Koalition? Trägt die FDP das mit?

    Lemke: Auch die FDP hat kein Interesse daran, dass die Konsumentinnen und Konsumenten über den Tisch gezogen werden. Es kann nicht sein, dass man bei einer elektrischen Zahnbürste oder bei einem Handy den Akku nicht wechseln kann. Das ist extrem unnütz und sorgt für Produktzyklen, die unökologisch und unsozial sind. Das zu ändern, ist eine sehr anspruchsvolle, aber lohnende Aufgabe.

    Was nehmen Sie sich vor, um Plastikmüll weiter zu verringern?

    Lemke: Wir brauchen einen nachhaltigen Umgang mit Plastik in unserem Alltag. Jetzt wird die Plastiktüte abgeschafft. Das muss gut umgesetzt werden. Als nächsten Schritt wollen wir Mikroplastik aus Kosmetikprodukten wirklich abschließend herausnehmen. Es gibt da zwar schon eine freiwillige Vereinbarung mit den Kosmetikherstellern, die erste Effekte gebracht haben. Aber das reicht noch nicht aus. Wenn die Hersteller von sich aus nicht auf Mikroplastik verzichten - überall da, wo dies gut möglich ist -, wird es eine Regulierung geben müssen, und zwar auf europäischer Ebene. Es ist schädlich, dass wir Plastik auf diese Weise in die Umwelt freisetzen.

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