Tel Aviv. Der Vorstoß der israelischen Rechtsregierung zur Schwächung der Justiz geht in die entscheidende Phase. Die Proteste reißen nicht ab - und es gibt immer mehr gewaltsame Übergriffe auf Demonstranten.

Gut eine Viertelmillion Menschen hat in Israel örtlichen Medien zufolge gegen die umstrittene Justizreform der rechts-religiösen Regierung protestiert.

Im Zentrum Tel Avivs versammelten sich Demonstranten den elften Samstagabend in Folge mit israelischen Flaggen und Protestschildern. Darauf war zu lesen: „Nein zur Diktatur“ oder „Israel ist noch nicht Iran“. Auch in Städten wie Jerusalem oder Beerscheba kam es zu Protesten.

„Extreme Zunahme der Gewalt“

Dabei kam es zu Festnahmen sowie gewaltsamem Übergriffen von Befürwortern der Reform auf Demonstranten. Der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu sagte mit Blick auf die Proteste, man werde „keine Anarchie tolerieren“. Man werde auch keine Gewalt zulassen. Oppositionsführer Jair Lapid schrieb auf Twitter, er verurteile die „extreme Zunahme der Gewalt“. Sie werde die Demonstranten nicht zum Schweigen bringen.

Einer der Organisatoren der Proteste, Eran Schwartz, warnte in einem Radiointerview vor Blutvergießen. Er warf Regierungsvertretern vor, mit gezielter Hetze die Gewalt gegen Demonstranten zu fördern. Netanjahus Sohn Jair hatte die Teilnehmer der Proteste etwa mit Braunhemden verglichen.

Proteste seit mehr als zwei Monaten

Der ehemalige Verteidigungsminister Benny Gantz warnte im Gespräch mit dem israelischen Kan-Sender: „Wir gleiten leider immer mehr in Richtung eines Bürgerkriegs ab. Wir sehen die Gewalt auf der Straße, und sie kann weiter eskalieren.“ Netanjahu sehe nicht, „wie unser Volk vor unseren Augen auseinanderbricht“.

Seit mehr als zwei Monaten gibt es massive Proteste gegen das umfassende Gesetzesvorhaben der Regierung. Dem Parlament soll es künftig möglich sein, mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufzuheben. Politiker sollen deutlich mehr Einfluss bei der Ernennung von Richtern erhalten. Kritiker sehen die Gewaltenteilung in Gefahr und warnen vor einer gefährlichen Staatskrise. Die Koalition will noch bis Ende des Monats Kernelemente der Reform durchsetzen.

Einen am Mittwoch vom israelischen Präsidenten Izchak Herzog vorgelegten Kompromissvorschlag wies Netanjahu umgehend zurück. Er sei unausgewogen und zementiere nur den gegenwärtigen Zustand. Die Opposition stellte sich hinter den Vorschlag. „Er ist nicht perfekt, aber ein fairer Kompromiss, der uns ermöglicht, hier gemeinsam zu leben“, sagte Lapid. Im Falle eines Bürgerkriegs gebe es nur Verlierer. Herzog betonte, der Vorschlag sei als Grundlage für Gespräche gedacht.

Protestbewegung eine der größten in der Geschichte Israels

Nach Medienberichten könnte die Koalition auch ohne Kompromiss eine etwas „abgeschwächte Version“ der Reform durchbringen. Auch innerhalb der Regierung sind erste kritische Stimmen zu hören. Der Abgeordnete David Bitan von Netanjahus Likud-Partei forderte im Rundfunk einen Stopp der Reform. Es stehe in Netanjahus Macht, dies zu tun.

Die Protestbewegung ist eine der größten in der Geschichte Israels, einem Land mit rund 9,4 Millionen Einwohnern, und sie umfasst breite Gesellschaftsteile. Der ehemalige Chef des Inlandsgeheimdienstes, Nadav Argaman, sprach sich gegen die Reform aus. Er vertraue Netanjahu nicht mehr, sagte er im Fernsehen. Der Regierungschef habe alle Hemmungen verloren, „er rast auf den Abgrund zu“. Der ehemalige Chef der Israelischen Atomenergiekommission, Zeev Snir, warnte in einem Brief an Netanjahu, die Reform gefährde Israels Existenz. Sie schade Israels Fähigkeit, sich dem Erzfeind Iran entgegenzustellen, schrieb er Netanjahu, der ihn 2015 selbst ernannt hatte.

Auch aus der Armee kommt vermehrt Widerstand. Hunderte Eliteoffiziere aus der Militärreserve erschienen am Sonntag nicht zum Dienst. „Wir werden gerne wiederkommen, wenn die Demokratie gewährleistet wird“, sagte einer von ihnen dem israelischen Rundfunk. Er sprach von einem Umsturzversuch von Seiten der Regierung. „Wir rufen dazu auf, in einer Diktatur keinen Reservedienst mehr zu leisten.“