Berlin. Im Bundestag wird über eine Widerspruchsregelung für Organspenden abgestimmt. In der CDU sind die Fronten verhärtet. Wer will was?

Um neun Uhr morgens geht es los, noch vor Mittag soll die Entscheidung fallen: An diesem Donnerstag kommt der Bundestag zusammen, um über eine der wichtigsten ethischen Fragen der letzten Jahre abzustimmen. Wird die Organspende in Deutschland zum Normalfall am Lebensende? Kommt es zum Kulturwandel in der Transplantationsmedizin?

Gesundheitsminister Jens Spahn kämpft dafür, schreibt Briefe an seine Parlamentskollegen, wirbt bis zur letzten Minute. Doch das war nicht immer so. Der CDU-Mann hat eine radikale Kehrtwende hingelegt – vom klaren Gegner zum glühenden Verfechter einer komplett neuen Spenderkultur.

Jeder Bundesbürger über 16 Jahre soll automatisch als Organspender betrachtet werden – wenn kein klarer Widerspruch erkennbar ist: als Eintrag in einem Register oder übermittelt durch einen Angehörigen. So will es Spahn heute.

Es ist das Modell der doppelten Widerspruchslösung. Er hat es nicht erfunden – aber er ist der erste Gesundheitsminister, unter dem das Modell zum ersten Mal überhaupt eine Chance hat, Wirklichkeit zu werden.

Organspende: Widerspruchslösung im Bundestag – Spahns Kehrtwende

Politische Wegbegleiter kennen Spahn noch ganz anders. Die Chronik seiner Kehrtwende begann vor genau zwei Jahren: „Anfang 2018 kam Jens Spahn auf mich zu und schlug mir eine gemeinsame Initiative vor“, erinnert sich Karl Lauterbach. „Mich hat das ziemlich überrascht, Spahn war bis zu diesem Zeitpunkt immer gegen die Widerspruchslösung.“

Der SPD-Mann setzt sich seit fast zehn Jahren für eine Widerspruchslösung ein – und sah Spahn immer auf der Gegenseite. „Wir haben dann Kaffee zusammen getrunken und uns über die Details verständigt. Auch das ging überraschend reibungslos.“ Zwei Jahre später steht jetzt der gemeinsame Gesetzentwurf von Spahn und Lauterbach zur Abstimmung im Parlament.

Seine Amtsvorgänger sind gegen die Widerspruchslösung

Spahn selbst geht ganz offensiv mit seiner Kehrtwende um: „Ich bin jahrelang selber dafür eingetreten, allein über Aufklärungskampagnen Menschen für die Organspende zu gewinnen“, sagte er unserer Redaktion. „Aber das reicht nicht.“ Die Organspendezahlen blieben niedrig.

Abstimmung über Organspende: Annegret Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn sind sich nicht eins.
Abstimmung über Organspende: Annegret Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn sind sich nicht eins. © Getty Images | Maja Hitij

„Damit werden wir den Tausenden Patienten nicht gerecht, die voller Hoffnung auf Spenderorgane warten“, so der Minister. Deshalb seine Forderung: „Wir müssen mutiger sein und einen Kulturwandel einleiten. Das geht nur mit der Widerspruchslösung. Die Bereitschaft zur Organspende muss Normalität werden.“

Vielen geht das zu weit. An diesem Donnerstag steht deswegen nicht nur der Gesetzentwurf von Spahn und Lauterbach zur Abstimmung. Sondern auch ein Gegenvorschlag, der deutlich weniger radikal ist: Eine parteiübergreifende Gruppe um die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock will die Zahl der Organspenden durch eine Zustimmungslösung steigern, bei der potenzielle Organspender regelmäßig daran erinnert werden sollen, ihre Entscheidung in einem staatlichen Spenderregister zu dokumentieren.

Ein solches Register will auch Spahn, Baerbocks Gruppe allerdings eint die Sorge, dass Stillschweigen als Freigabe der eigenen Organe bewertet werden könnte.

Wie es am Ende ausgeht? Öffentlich festlegen mag sich auch kurz vor der Bundestagsentscheidung kaum jemand. Aus zwei Gründen.

Abstimmung über Organspende ist ethische Entscheidung – und parteiunabhängig

Erstens: Bei ethischen Entscheidungen wie dieser zählen weder die Parteizugehörigkeit noch machtstrategische Winkelzüge. Spahn kann sich zwar freuen, dass die Mehrheit seiner Kabinettskollegen mit Bundestagsmandat hinter ihm steht und auch die Bundeskanzlerin für die Widerspruchslösung ist.

Ausgerechnet Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) aber hält nichts von Spahns Idee. Seine Amtsvorgänger Hermann Gröhe (CDU) und Ulla Schmidt (SPD) sind ebenfalls gegen die Widerspruchslösung.

Auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer würde, wenn sie im Bundestag mitstimmen könnte, gegen Spahn stimmen: „Ich bin aus tiefer Überzeugung für eine Lösung, die das Prinzip der Freiwilligkeit akzeptiert“, sagte Kramp-Karrenbauer unserer Redaktion.

„Mir fällt die Vorstellung schwer, jemand von Staats wegen zur Organspende zu verpflichten, der sich von dieser Pflicht erst wieder frei machen muss.“ Sie sei selbst Organspenderin. „Das ist ein Thema, das mich sehr umtreibt: Jederzeit kann ich das sein, kann das eines meiner Kinder sein, die auf ein Organ angewiesen sind.“

Offener Ausgang: Entscheidung des Bundestags ist kaum vorhersehbar

Offen ist der Ausgang aber auch deshalb, weil sich auch Stunden vor der Abstimmung viele Abgeordnete noch nicht öffentlich festgelegt haben. Die FDP immerhin will mehrheitlich für Baerbock stimmen, auch die Grünen versammeln sich weitgehend hinter ihrer Parteichefin.

Um angenommen zu werden, braucht Spahns Gesetz mehr Ja- als Nein-Stimmen. Zuletzt haben sich rund 250 der 709 Abgeordneten hinter die Widerspruchslösung gestellt. Für Baerbocks Vorschlag waren gut 220 Parlamentarier. Auch die AfD mit ihren 91 Abgeordneten lehnt Spahns Vorschlag mehrheitlich ab.

Sollte dieser scheitern, kommt Baerbocks Antrag zur Abstimmung. Auch hier wäre wieder eine einfache Mehrheit der Ja-Stimmen nötig. Offen ist, was Spahn und seine Anhänger tun, wenn ihr eigener Antrag scheitert. Stimmen sie mit Baerbock, um überhaupt eine Veränderung bei der Spendepraxis zu erreichen?

Spahn will zeigen, dass „die da oben“ was tun

Bei Spahn wäre das gut möglich. Besser in kleinen Schritten regieren als gar nicht regieren – nach diesem Prinzip arbeitet der Minister seit Amtsantritt. Dass viele der 20 Gesetze, die er in den ersten 20 Monaten auf den Weg gebracht hat, groß in der Ankündigung, aber oft deutlich kleiner in der Wirkung waren – das kalkuliert der Minister bewusst ein.

Denn: Der Mann aus dem Münsterland, der in seiner Partei nach wie vor als potenzieller Kanzlerkandidat für die Zeit nach Angela Merkel im Gespräch ist, will zeigen, dass „die da oben“ überhaupt was tun. Dass die Regierung regiert. Oder wichtiger noch: Dass er regiert.

So kann eine Organspende Leben retten

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    Dass er nicht nur flotte, wertkonservative Attacken auf die eigene Parteiführung kann, sondern weiß, was den Leuten fehlt: genügend Pfleger, schnelle Arzttermine, masernfreie Kitas. Oder eben: Spenderorgane für Menschen, die derzeit damit rechnen müssen, dass sie eher sterben, als dass sie die Chance auf eine rettende Transplantation bekommen.

    Entscheidet der Bundestag im Sinne des Volkes?

    Oft passt es in die Grundstimmung der Deutschen, was Spahn auf den Weg bringt. Die Impfpflicht für Masern, mehr Rechte für Kassenpatienten, die Neuordnung der Notfallambulanzen, mehr Tempo bei der Digitalisierung der Praxen. Seine Lösungen dagegen stoßen oft auf massiven Widerstand – bei Ärzten, bei den Kassen, bei den Kommunen.

    Bei der Organspende ist es genauso: Die allermeisten finden es wichtig, Organe zu spenden. Nach einer Yougov-Umfrage sprach sich zuletzt sogar eine knappe Mehrheit der Deutschen für die Einführung einer Widerspruchslösung aus: 53 Prozent sind demnach für Spahns Vorschlag, 34 Prozent dagegen. Auch in der Ärzteschaft ist der Rückhalt für Spahn groß. Doch entscheidend sind seine Parlamentskollegen. Und da ist die Mehrheit keinesfalls sicher. Lesen Sie dazu auch unser Pro und Contra zur Widerspruchslösung bei der Organspende. Und beantworten Sie sich selbst die Frage: Was geht vor? Der Einzelne oder die Gesellschaft?

    „Eine Niederlage im Bundestag wäre für Spahn wahrscheinlich kein schwerer Schlag“, glaubt Spahn-Mitstreiter Lauterbach. „Ein Ziel hat er doch in jedem Fall erreicht: dass das Thema breit diskutiert wurde und die Debatte weitergeht.“