Teheran/Berlin. Das iranische Regime verhängt Todesurteile und geht mit großer Brutalität gegen die Demonstranten vor. Doch die geben nicht auf.

Der Wunsch nach Freiheit ist immer noch viel stärker als die Angst. Der Aufstand im Iran hält an. „Am Anfang der Proteste hätte ich mir nicht vorstellen können, dass wir über zwei Monate noch Widerstand leisten würden“, sagt Kajal (alle Namen aus Sicherheitsgründen geändert). Sie ist Ingenieurin, Mitte 30, lebt in der kurdischen Stadt Sanandaj.

Ihre Heimatstadt und andere kurdische Gebiete des Landes sind zum Brennpunkt der Proteste geworden. Die iranischen Kurdinnen und Kurden stehen inzwischen an der Spitze des Widerstands.

Auch Jina Mahsa Amini war Kurdin. Die junge Frau starb am 16. September im Polizeigewahrsam, nachdem sie von Sittenwächtern wegen Verstoßes gegen islamische Kleidungsvorschriften festgenommen worden war. Seitdem ist das Land in Aufruhr und stürzt die politische Führung Irans in eine der schwersten Krisen seit Jahrzehnten – und sie antwortet mit aller Gewalt und brutalen Einschüchterungsversuchen.

Iran: Kurdische Gebiete sind der Brennpunkt

Laut der Menschenrechtsorganisation Hengaw wurden zwischen dem 15. und 21. November mindestens 42 Menschen in kurdischen Städten von den Sicherheitskräften getötet. Berichte und Videos, die von kurdischen Gebieten ins Ausland dringen, zeigen, dass das Regime gegen die Demonstrationen und Proteste in dieser Region härter vorgeht als an anderen Orten des Landes.

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Hengaw berichtet, dass 40 Todesopfer der letzten Tage erschossen worden seien. Während in Großstädten wie Teheran weiterhin Platzpatronen eingesetzt werden oder die Sicherheitskräfte mit Schrotflinten auf die Menschen feuern, wird auf kurdische Protestierende mit echter Munition geschossen.

Viele der Angeschossenen trauten sich aber nicht ins Krankenhaus, denn alle Kliniken würden vom Geheimdienst der Revolutionsgarden überwacht, sagt ein Arzt vor Ort. Wer offensichtlich bei Demonstrationen verletzt wurde, wird noch im Krankenhaus festgenommen und landet ohne Behandlung im Gefängnis, berichten Menschenrechtsorganisationen.

Iran: Geheimdienst holt sie vom Arbeitsplatz und steckt sie ins Gefängnis

Doch auch in der iranischen Hauptstadt Teheran kommt es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Die Exil-Nachrichtenplattform Radio Zamaneh berichtete Ende der Woche, dass Hunderte in Moshirieh, einem alten Stadtteil im Süden Teherans, auf die Straße gegangen sind und „Tod dem Diktator“ gerufen haben.

Moshirieh wird vor allem von den ärmeren, jüngeren Familien bewohnt, die durch erhöhte Mieten im Stadtzentrum im Laufe der vergangenen Jahre an den Rand der Stadt gedrängt worden sind. Sie hatten sich bisher nicht an den Protesten beteiligt. Auch in Shahre Ray, einer anderen ärmeren Vorstadt Teherans, gibt es weiterhin Demonstrationen. Insgesamt verlagern sich die Proteste aus der Mitte und den nördlichen Teilen Teherans, wo Iranerinnen und Iraner aus der Oberschicht und oberer Mittelschicht leben, in ärmere Bezirke.

Alle Versuche des Regimes, die Proteste endgültig niederzuschlagen, waren bislang vergeblich. Weil die Gewalt, die Polizei und Revolutionsgarden auf den Straßen ausüben, offenbar nicht ausreicht, hat das Regime seinen Kurs verschärft. Der Geheimdienst holt sich die überwiegend jungen Leute nicht nur aus ihrer Wohnung, sondern auch von ihrem Arbeitsplatz, berichten Teheraner.

Mindestens sechs Todesurteile wurden verhängt

Abgeordnete des Parlaments hatten in einer Erklärung Anfang November einstimmig gefordert, umgehend die „göttliche Strafe gegen die aufrührerischen Elemente zu vollstrecken und alle hinzurichten“. Die Justiz der Islamischen Republik ist offenbar dazu bereit. Der Sprecher der Justiz, Masoud Setayeschi, erklärte Mitte der Woche, dass bisher etwa 2500 Demonstranten vor Gericht verurteilt worden seien – gegen mindestens sechs von ihnen verhängten die Richter die Todesstrafe.

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Der Vorwurf gegen die Verurteilten lautet wahlweise „Krieg gegen Gott“ oder „Korruption auf Erden“. Laut der Staatsanwaltschaft hätten all diejenigen, die zum Tode verurteilt worden sind, Gewalt ausgeübt gegen die Sicherheitskräfte. Einer von ihnen ist Mahan Sadri. Die Anklage hatte ihm vorgeworfen, er habe ein Motorrad angezündet und jemanden mit einem Messer verletzt. Noch werden die Todesurteile gegen die Demonstranten nicht vollstreckt.

Auch in Kalkutta in Indien wird gegen die Menschenrechtsverletzung der iranischen Regierung protestiert. Aktivisten der sozialistischen Einheit Indiens fordern ein Ende des iranischen Regimes.
Auch in Kalkutta in Indien wird gegen die Menschenrechtsverletzung der iranischen Regierung protestiert. Aktivisten der sozialistischen Einheit Indiens fordern ein Ende des iranischen Regimes. © AFP | DIBYANGSHU SARKAR

Die Zahl der Festnahmen und Anklagen steigt. Laut dem Sprecher der Justiz seien allein in Teheran gegen weitere 1200 verhaftete Protestler Anklagen erhoben worden. Die Menschenrechtsorganisation Hrana berichtete vor wenigen Tagen, dass seit Anfang der Proteste insgesamt über 18.000 Menschen inhaftiert worden sind.

Ihr Kopftuch nimmt Aida gar nicht mehr mit auf die Straße

Einer von diesen Inhaftierten war Farzad. Der 35-jährige Ingenieur aus Teheran ist auf Kaution auf freiem Fuß. Er landete bereits in der ersten Protestwoche im Gefängnis. Nach der Freilassung blieb er zuerst zu Hause, denn der Fall gegen ihn laufe noch, sagt Farzad. Doch inzwischen gehe er wieder auf die Straße und rufe abends Protest-Parolen vom Balkon. Auch für ihn ist es unglaublich, wie lange der Aufstand schon anhält. „Selbst 2009 habe ich sowas nicht erlebt. Damals dauerten die Proteste zwar länger an, aber mit langen Pausen. Zwei Monate ständig zu protestieren, fordert den Staat heraus, sagt er. Und er sei sich sicher: „Sie sind müde.“

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Auch Aida will nicht aufgeben. Immer wieder ist die Anfang 30-Jährige auf der Straße. „Auch ich bin sehr müde,“ sagt sie, sie sei zwei-dreimal erwischt und verprügelt worden. „Viele Nächte kam ich total angeschlagen nach Hause. Viele Nächte habe ich bei Freunden übernachtet, aus Angst, zu Hause abgeholt zu werden“. Aber, und das sagt sie mit dem Brustton der Überzeugung: „Ihre Söldner sind genauso müde wie wir. Es ist nur eine Frage der Ausdauer. Wer länger auf der Straße durchhält, gewinnt.“

Doch in Teheran kommt es kaum noch zu großen Demonstrationen. Aida leistet trotzdem Widerstand. Sie weigert sich, in der Öffentlichkeit das Kopftuch zu tragen. Inzwischen, so sagt sie, habe sie nicht mal mehr eins dabei, wenn sie das Haus verlässt.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.