Washington. Die Demokraten haben vor den Kongress-Wahlen vor allem auf das Thema Abtreibung gesetzt. Das könnte ihnen nun zum Verhängnis werden.

Abtreibung oder Inflation? Wenige Tage vor den Kongress-Wahlen in den USA am 8. November schlägt ein Meinungsumschwung den Demokraten von Präsident Joe Biden ins Kontor. Umfragen lassen plötzlich eine „rote Welle”, einen Kantersieg der Republikaner, als möglich erscheinen.

Frisches Indiz: In traditionell „blauen” Hochburgen wie Oregon, Kalifornien, Rhode Island oder New York sehen dort lange sicher geglaubte Demokraten ihre Umfragen-Vorsprünge dahinschmelzen. Während republikanische Geldgeber auf der Zielgeraden zusätzliche Millionensummen in TV-Werbung stecken, um ihre Leute durchs Ziel zu bringen.

Bernie Sanders, 2020 im Vorwahlkampf ein interner Rivale des amtierenden Präsidenten, sieht sich zu einem selten deutlichen Ordnungsruf an die eigenen Reihen genötigt: Weniger über Abtreibung sprechen, Leute, mehr über Wirtschaft, Inflation und die Axt, die die Republikaner im Sozialen anlegen wollen.

Joe Biden: Weiße Haus schob Kampf um Recht auf Abtreibung nach ganz oben

Mit der Intervention des Senators aus Vermont wirkt die bisherige Strategie des Weißen Hauses, das demokratische und parteiunabhängige Wähler/-innen stark mit dem polarisierenden Thema Abtreibung mobilisieren will, beinahe als Rohrkrepierer.

Ausgelöst durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in Washington, das seit fast 50 Jahren landesweit geschützte Recht auf Abtreibung zu kippen und die Zuständigkeit für Schwangerschaftsabbrüche an die 50 Bundesstaaten zurückzugeben, gab es seit dem Sommer tektonische Verschiebungen in der Wählerschaft.

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Zu Hunderttausenden haben sich Frauen in die Wählerverzeichnisse eintragen lassen; mutmaßlich, um ihren Unmut über das vielerorts de facto zu einem Total-Verbot von Abtreibungen führende Urteil des unter Donald Trump mehrheitlich nach rechts verschobenen Supreme Courts an der Wahlurne zum Ausdruck zu bringen.

Also schob das Weiße Haus den Kampf um das Recht auf „abortion” im Wahlkampfschaufenster ganz weit nach vorn. Vor wenigen Tagen toppte Präsident Biden die Mobilisierungsversuche, indem er in ankündigte, schon im Januar ein Gesetz unterzeichnen zu wollen, das den Supreme Court quasi unterläuft und auf ein bundesweit einheitliches und parlamentarisch befestigtes Recht auf Abtreibung abzielt.

Joe Biden: Kaum Chancen für Demokraten?

Das ist der dritte Schritt vor dem ersten. Ohne Mehrheiten in Repräsentantenhaus und Senat wird es damit nichts. Und derzeit geben die meisten Umfragen den Demokraten kaum mehr Chancen, beide Kammern des Kongresses zu halten.

Stand Donnerstag meldete das Referenz-Portal „real clear politics” (RCP) für den Senat, wo ein Drittel der 100 Sitze neu zu verteilen ist, 46 sichere Sitze für die Demokraten und 48 für die Republikaner. Hart umkämpft sind Arizona, Georgia, New Hampshire, Nevada, Pennsylvania und Wisconsin. 51 Sitze sind für die Mehrheit notwendig.

Im 435-köpfigen Repräsentantenhaus, wo 218 die Grenze zur Mehrheitsfraktion markiert, sieht es für die Republikaner, die nur fünf Mandate mehr benötigen als sie heute haben, noch rosiger aus. Hier kalkuliert RCP mit einem Zugewinn zwischen 12 und 47 Sitzen für die Konservativen.

Zigtausende zu Abtreibungs-"Tourismus" gezwungen

Wichtigster Grund könnte nach Einschätzung von Analysten sein: Die unbestreitbare Erregungskurve, die das höchste Gericht mit seiner historischen Entscheidung erzeugt hat, ist seit dem Sommer deutlich abgeflacht.

Bei 70 Prozent der Bevölkerung, die die Aufhebung einer landesweit einheitlich-verlässlichen Regelung im Umgang mit dem ungeborenen Leben grundsätzlich als Rückschritt empfinden, steht Abtreibung nicht mehr oben auf dem Merkzettel. Obwohl in vielen Bundesstaaten Zigtausende Frauen mittlerweile zu Abtreibungs-„Tourismus” in die Nachbarschaft gezwungen sind. Und obwohl die Republikaner Vorstellungen de facto den Supreme Court noch rechts noch überholen, indem sie landesweites Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen ab der 15. Woche vorantreiben.

Stattdessen hat der legendäre Satz aus dem 1992er Wahlkampf von Bill Clinton - „It's the economy, stupid!” - Konjunktur. Er besagt, dass Amerikaner ihre Wahlentscheidung am Ende des Tages meist nach einem tiefen Blick ins eigene Portemonnaie und auf die allgemeine wirtschaftliche Lage treffen

Inflation das wichtigste Thema bei "midterms"

Weit über 80 Prozent halten nach übereinstimmenden Umfragen die Wirtschaftslage und hier gesondert die unverändert oberhalb von acht Prozent rangierende Inflation für das mit Abstand wichtigste und alles durchdringende Thema bei den anstehenden „midterms”.

Dass die Biden-Regierung gegen erbitterte Widerstände dreistellige Milliarden-Summen für den Klimaschutz, gegen Kinderarmut und für die Ertüchtigung der maroden Infrastruktur durchgesetzt hat und dass die Arbeitslosigkeit auf Niedrigst-Niveau um die drei Prozent verharrt, gerät in den Hintergrund.

Die Teuerungsrate betrifft dagegen den Gang in den Supermarkt, den Stopp an der nächsten Tankstelle wie auch extrem gestiegene Miet- und Heizkosten; ein Jedermann-Thema also. Bis weit in die Mittelschicht reicht inzwischen das Stöhnen über eine Kosten-Explosion, die viele Haushalte latent in Existenznot bringt. Nach der Inflation kommt auf der Skala der Wähler-nahen Themen die allerorten grassierende Kriminalität. Erst danach kommt Abtreibung, gefolgt von Einwanderung/Asyl.

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Für die Inflation wird im Mittel der Bevölkerung weniger die Corona-Krise mit den daraus resultierenden Lieferkettenproblemen oder der Gas und Öl verknappenden Ukraine-Krieg verantwortlich gemacht, als vielmehr die Konjunktur- und Infrastruktur-Pakete Bidens. Dahinter steht eine republikanische Partei, die von A bis Z die Ausgabenpolitik der amtierenden Regierung als Ursache für die angespannte Situation brandmarkt.

Nicht ohne Folgen: Knapp 60 Prozent der Amerikaner sind unzufrieden damit, wie der 79-jährige Biden seinen Job macht. 80 Prozent sehen ihr Land generell auf dem falschen Weg. Über 80 Prozent halten die Wirtschaftslage für mittelmäßig bis schlecht. Fast 70 Prozent sagen, dass es noch schlimmer wird.

Dass die Notenbank Federal Reserve (Fed) gemäß ihres Auftrags die Inflation durch massive Zinsanhebungen (derzeit 3 bis 3,23 Prozent) einzudämmen versucht und kurz vor den Zwischenwahlen wohl auf vier Prozent erhöhen wird, wird auf republikanischer Seite als Panik-Reaktion abqualifiziert, die Wirtschaftskraft abwürgt und die USA direkt in die Rezession führen werde. Dass diverse Analysten der amerikanischen Wirtschaft in der Tat binnen der kommenden zwölf Monate einen Abschwung prophezeien, bringt die Regierung zusätzlich in Argumentationsnot.

Republikaner wird mehr wirtschaftliche Kompetenz unterstellt

Das erst im August durch den Kongress geprügelte Gesetzespaket zur Inflationsbekämpfung macht nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftler durchaus Sinn, wird aber vor dem Wahltermin bei keinem Wähler Linderung verschaffen. Die dort geplanten Maßnahmen zur Senkung von Arzneimittel- und Energiepreisen werden bestenfalls im nächsten Jahr spürbar.

Obwohl die Republikaner nicht mit konkreten Rezepten aufwarten, wie der Misere denn anders beizukommen wäre, wird ihnen vom Wähler in ökonomischen Fragen mehr Kompetenz unterstellt. Was dazu führt, dass die Aussichten für einen substanziellen Sieg der Konservativen am 8. November gestiegen sind.

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Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.