London. Nigel Farage liegt in Umfragen vor der Europawahl mit seiner neuen Partei weit vorn. Ein Programm gibt es nicht. Dafür aber ein Ziel.

Huddersfield, Nordengland, am Montagabend. Im John Smith’s Stadium veranstaltet die Brexit-Partei eine Kundgebung zu den Europawahlen. Als der Star des Abends erscheint, setzt Rockmusik laut ein, die Leute springen auf und einige beginnen zu johlen: „Nigel! Nigel!“ Hände schüttelnd, Leute umarmend, bahnt sich Nigel Farage seinen Weg zur Bühne.

„Hello!“, ruft er, wirft seine Arme in die Luft und zeigt sein Pferdegrinsen. Der Saal ist elektrisiert. Die Leute wollen sich gar nicht mehr beruhigen. Die „Nigel! Nigel!“-Rufe schwellen zum Orkan an.

Der Mann ist in seinem Element. Nigel Farage, Ex-Banker und seit 20 Jahren Abgeordneter im Europäischen Parlament, sieht sich als Mann des Volkes im Kampf gegen das Establishment. Er hatte einst die europafeindliche Ukip-Partei gegründet und mit ihr bei den Europawahlen 2014 mit 27 Prozent das Feld abgeräumt.

Sein Erfolg hat den damaligen Premierminister David Cameron so verschreckt, dass er, um seine Konservative Partei zu befrieden, das Referendum über den Verbleib in der EU versprach. Nach dem Referendum trat Farage vom Parteivorsitz zurück. Ukip verschwand in der Versenkung. Jetzt ist Farage wieder zurück, aber diesmal an der Spitze der neu gegründeten Brexit-Partei.

Europawahl ist Einladung an alle Wutbürger im Land

Nicht nur der Abend in Huddersfield, auch eine Umfrage nach der anderen demonstriert seinen erstaunlichen Erfolg. Die letzte Meinungserhebung von YouGov sieht die Brexit-Partei bei 34 Prozent – mehr als die Volksparteien der Konservativen (elf Prozent) und Labour (16 Prozent) zusammengenommen haben.

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Freilich gelten diese Zahlen nur für die Wahlabsicht bei den Europawahlen, die sich als die perfekte Einladung an alle Wutbürger im Land anbieten. Denn weder Regierung noch Opposition finden einen Weg, das Versprechen des Referendums umzusetzen und den Brexit Realität werden zu lassen – folglich macht sich jetzt der Volkszorn Luft. 72 Prozent der Briten, so hat die Hansard Society ermittelt, sind der Ansicht, dass das politische System verändert werden muss, und 54 Prozent denken, es braucht dafür einen „starken Mann, der auch einmal die Regeln bricht“.

Nigel Farage schwimmt auf dieser Welle. Der 55-Jährige trat schon als Schulkind in die Konservative Partei ein, weil er Margaret Thatcher tief verehrte. Er verließ 1992 die Torys aus Protest gegen John Majors Europapolitik, als der damalige Premierminister den Maastricht-Vertrag unterzeichnete. Ein Jahr später gründete Farage die Ukip-Partei, die sich in den nächsten Jahren immer mehr zur größten Bedrohung der Torys auswuchs.

Aufstieg von Ukip verdankt Partei Nigel Farage

Nigel Farage, Vorsitzender der Brexit-Partei.
Nigel Farage, Vorsitzender der Brexit-Partei. © dpa | Danny Lawson

Denn erstmals gab es eine Partei rechts neben den Konservativen, die ihnen in signifikantem Maße Wählerstimmen abjagen konnte. Farage, der es selbst in sieben Anläufen nicht geschafft hat, ins Unterhaus gewählt zu werden, entpuppte sich dennoch als wichtiger politischer Faktor: Als Aufmischer von rechts konnte er genug Druck ausüben, um David Cameron zu zwingen, ein Referendum anzusetzen.

Der Aufstieg von Ukip und der Erfolg der Brexit-Partei sind fast ausschließlich der persönlichen Popularität von Nigel Farage geschuldet. Laut einer Umfrage kennen 96 Prozent der Briten diesen Politiker, auch wenn nur 24 Prozent ihn mögen und 56 Prozent ihn ablehnen. Seine Fans schätzen den leidenschaftlichen Patriotismus des Mannes, und viele stört es nicht, wenn dabei auch etwas Fremdenfeindlichkeit durchklingt. „Die Politik ist kaputt“, ruft er bei seinen Kundgebungen, „lasst sie uns ein für alle Mal ändern!“ Dann donnert regelmäßig der Saal.

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Bisher hat die Brexit-Partei kein Wahlprogramm veröffentlicht. Ihre Politik besteht im Namen: Man verlangt den Brexit. Der soll so hart wie möglich ausfallen. Unbedingt ein Austritt am 31. Oktober und danach eine Außenhandelsbeziehung mit der EU „nach den Regeln der Welthandelsorganisation“.

An Machtverhältnisse im Parlament ändert das nichts

Weitere politische Ziele, wie etwa der Umbau der Politik vonstatten gehen sollte oder spezifische Auskunft über die Ausgestaltung des Brexits, will Farage nicht verraten. Bei einem BBC-Interview wurde er mit früheren Aussagen konfrontiert und gefragt, ob er immer noch denke, dass die Angst vorm Klimawandel „die dümmste Sache in der Geschichte der Menschheit“ sei? Oder ob er sich immer noch unwohl fühle, wenn er im Zug viele fremde Sprachen höre? Wie stehe es um die einst beabsichtigte Lockerung des Waffenrechts? Oder um den Vorschlag, HIV-infizierte Einwanderer nicht im Nationalen Gesundheitsdienst zu behandeln?

Die Reaktion von Farage war bezeichnend. Antworten wollte er nicht, stattdessen brauste er auf und bezeichnete die Fragen als unverschämt. Man solle sich doch bitte über das „Jetzt“ unterhalten. Hinterher bezeichnete er die BBC als „den Feind“. Wenn er dazu noch den Ausdruck „Fake News“ gebraucht hätte, wäre die Parallele zu seinem Idol Donald Trump perfekt gewesen. Die Kritik an seiner Person wendet Farage in einen Angriff der Eliten auf die 17,4 Millionen Briten, die für den Brexit gestimmt haben.

Wird die populistische Welle, die Farage jetzt so erfolgreich reitet, das Establishment hinwegspülen? Man darf davon ausgehen, dass die Brexit-Partei die stärkste Kraft bei den Europawahlen wird. Farage wird sich zum Gewinner erklären und die britische Öffentlichkeit wird den Ausgang als ein Sieg des Brexit-Lagers sehen.

Doch an den Machtverhältnissen im Parlament ändert das nichts. Und auch bei der zukünftigen Zusammensetzung des Unterhauses dürfte die Brexit-Partei keine große Rolle spielen, denn das britische Mehrheitswahlrecht benachteiligt kleine Parteien. Aber Angst vor diesem charismatischen Populisten haben die etablierten Parteien schon. Und das genügt ja oft, um die Politik nach rechts zu schieben.

Die Politik ist kaputt. Lasst sie uns einfür alle Mal ändern
Nigel Farage, Gründer der neuen Brexit-Partei