Berlin. Der Brand im Ewin-Gefängnis in Teheran entfacht die Proteste im ganzen Land neu. Experten warnen: Für die Mullahs wird es gefährlich.

Es sind Bilder, die wie eine Kriegserklärung an das iranische Mullah-Regime wirken. Tausende Menschen gehen in Teheran und anderen Städten auf die Straße, skandieren „Tod dem Diktator“ – eine provokative Ansage an den politischen und religiösen Führer des Landes, Ajatollah Ali Chamenei. Frauen reißen sich in aller Öffentlichkeit demonstrativ das Kopftuch ab, ein Kernstück im Kleiderzwang der Islamischen Republik.

Aber auch fernab der iranischen Hauptstadt flammen die Proteste auf. In Ardabil am Kaspischen Meer sei eine 16-jährige Schülerin von Sicherheitskräften zu Tode geprügelt worden, berichtet der iranische Journalist Omid Rezaee, der in Deutschland im Exil lebt. Sie und ihre Mitschülerinnen hätten Parolen wie „Frauen – Leben – Freiheit“ gerufen.

Iran: Proteste halten seit einem Monat an

Der Iran wird seit gut einem Monat von heftigen Protesten erschüttert. Ausgelöst wurden sie durch den Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini. Die 22-Jährige war am 16. September in Teheran gestorben, nachdem sie drei Tage zuvor von der Sittenpolizei wegen des Vorwurfs festgenommen wurde, ihr Kopftuch nicht den strengen Vorschriften entsprechend getragen zu haben.

Bei einem Protest in Berlin hält ein Mann ein Bild der verstorbenen Mahsa Amini in Händen.
Bei einem Protest in Berlin hält ein Mann ein Bild der verstorbenen Mahsa Amini in Händen. © Paul Zinken/dpa

„Die Breite und Dichte des gegenwärtigen Protests sind beachtlich“, sagte der Nahostexperte und Direktor der Berliner Denkfabrik Candid Foundation, Daniel Gerlach, unserer Redaktion. „Er erstreckt sich von den wichtigen Städten Teheran, Isfahan und Täbris über kleinere Städte und Dörfer bis hin zu von Sunniten bewohnten Regionen im Süden und Südosten und in den kurdischen Gebieten. Auch bei der Islamischen Revolution 1979 spielte die Protestwelle in den drei großen Städten des Landes eine bedeutende Rolle.“

Proteste im Iran: Die Männer solidarisieren sich mit den Frauen

Hinzu kommt, dass die Ölarbeiter am Persischen Golf streiken. Zusätzliches Moment der Unruhe: „Die Basarhändler in Teheran, die einer eher konservativen Schicht angehören, haben ihr Geschäft aus Solidarität mit der Protestbewegung vorübergehend geschlossen. Der Basar ist ein wichtiger Seismograph für die iranische Wirtschaft“, unterstreicht Gerlach.

Die Demonstrierenden bestehen ungefähr je zur Hälfte aus Frauen und Männern. Viele Männer solidarisieren sich mit den Frauen, weil sie die Unterdrückung der Frauen und den Kopftuchzwang zu ihrer Sache machen. „Der Kopftuchzwang und die strikte Kleiderordnung sind für sie offenbar zum Symbol der Unterdrückung aller Iraner geworden“, so Gerlach.

Demos gegen die Mullahs: Brand im Gefängnis hat die Proteste verstärkt

Die Proteste wurden jedoch neu angefacht durch den Brand im Ewin-Gefängnis in Teheran am Sonnabend. Die Haftanstalt ist für die Misshandlung von politischen Gefangenen berüchtigt. Berichten zufolge sind auch Hunderte Menschen inhaftiert, die während der jüngsten Massenproteste festgenommen worden waren.

Videos in Online-Netzwerken zeigten Flammen und eine Rauchwolke über dem Gefängnis. Auch Schüsse und Explosionen waren zu hören. Nach offiziellen Angaben wurden acht Insassen getötet und Dutzende verletzt. Menschenrechtsorganisationen befürchten jedoch eine noch höhere Opferzahl.

Durch das Feuer zerstörte Werkstatt im Ewin-Gefängnis.
Durch das Feuer zerstörte Werkstatt im Ewin-Gefängnis. © Koosha Mahshid Falahi/Mizan News Agency/AP/dpa

Die Ursachen des Brandes sind ungeklärt. Gerlach misst dem Feuer jedoch eine „hohe psychologische und symbolische Bedeutung“ zu. „Er ruft bei vielen Menschen Erinnerungen an Massentötungen von Gefangenen in der Islamischen Republik wach. Bei dem aktuellen Brand haben viele Menschen zunächst gedacht, das Regime bringt die Häftlinge um oder lässt sie sterben. Das kann die Proteste befeuern.“

Experte: Das Regime kann in „Schieflage“ geraten

Die Welle aus Unzufriedenheit, Wut und Ärger ist für die Mullahs durchaus gefährlich. „Die aktuelle Protestbewegung ist so stark, dass das iranische Regime aus der Balance geraten kann“, betont Gerlach.

Das Regime besteht im Wesentlichen aus dem klerikalen Establishment, der Revolutionsgarde, den paramilitärischen Bassidsch-Milizen, mehreren Zehntausend Familien, die vom Regime profitieren, sowie der Regierung. „Wenn eine dieser Gruppen wegbricht oder aus dem Pakt ausschert, gerät das Regime in eine Schieflage“, warnt Gerlach.

Der Nahost-Experte sieht zumindest „zaghafte Anzeichen für eine Schieflage des Regimes“. So gebe es Berichte, dass viele Familien der traditionellen Elite das Land verließen. Zudem halte sich die Sicherheitselite, die Generäle der Revolutionsgarde, bei den aktuellen Protesten verbal auffällig zurück. „Auch die plötzliche Gesprächsbereitschaft des iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi deutet darauf hin, dass das Regime große Sorge hat“, so Gerlach.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.