Tel Aviv/Gaza. Die Hamas feuert in den ersten Tagen des Konflikts nach Angaben der Armee mit einer vorher nie da gewesenen Intensität Raketen ab. Israel reagiert mit massiven Luftangriffen.

Knapp eine Woche nach Beginn der Eskalation im Gaza-Konflikt hat Israels Militär seine Angriffe auf Vertreter der Hamas im Gazastreifen verschärft.

Nach massiven Raketenangriffen durch militante Palästinenser aus dem Küstengebiet beschoss Israels Luftwaffe am Wochenende das Haus des dortigen Chefs der islamistischen Palästinensergruppe, Jihia al-Sinwar. Das Gebäude in Chan Junis habe als "militärische Infrastruktur" gedient, teilte die Armee am Sonntag mit. Das Militär hatte der Hamas-Führungsriege zuvor mit gezielten Tötungen gedroht.

Israels Luftwaffe zerstörte am Samstag auch ein Hochhaus im Gazastreifen, in dem Medienunternehmen wie Associated Press (AP) ihre Büros hatten. Berichten zufolge wurden die Bewohner zuvor telefonisch aufgefordert, das Gebäude zu verlassen. Die Nachrichtenagentur AP zeigte sich entsetzt nach dem Vorfall, Journalistenverbände protestierten. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu rechtfertigte den Beschuss. In dem Gebäude sei ein Geheimdienstbüro der Hamas untergebracht gewesen, das Angriffe auf israelische Zivilisten organisiert habe, sagte Netanjahu dem US-Sender CBS. Es sei also "ein völlig legitimes Ziel" gewesen. US-Präsident Joe Biden hatte am Samstagabend nach dem Beschuss mit Netanjahu telefoniert.

Militante Palästinenser beschossen weiterhin vor allem an den Gazastreifen angrenzende Gebiete in Israel mit Raketen. In der Nacht auf Sonntag gab es auch erneut Alarme im Großraum Tel Aviv.

Seit Beginn der Eskalation am vergangenen Montagabend wurden nach Armeeangaben mindestens 2900 Raketen auf Israel abgefeuert. Die Intensität des Beschusses ist demnach so hoch wie nie zuvor in einem Konflikt mit der Hamas. Wie das Heimatfrontkommando mitteilte, lag die Zahl der Raketen deutlich über der Menge der Geschosse in einem vergleichbaren Zeitraum des Gaza-Kriegs 2014. Damals seien in dem 51-tägigen Konflikt 4481 Raketen auf Israel abgefeuert worden.

Rettungskräften zufolge kamen in Israel durch den Raketenbeschuss seit Montagabend bislang zehn Menschen ums Leben. Hunderte wurden verletzt.

Israels Armee unternahm nach eigenen Angaben seit Montagabend mindestens 650 Angriffe im Gazastreifen. Von palästinensischer Seite hieß es, es seien die bisher schwersten Luftangriffe in dem dicht besiedelten Küstengebiet gewesen.

Die Zahl der Toten nach Angriffen Israels in der Nacht auf Sonntag in dem Küstengebiet stieg nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums auf 42. Darunter seien 16 Frauen und 10 Kinder, 50 Menschen seien verletzt worden, sagte ein Sprecher des Ministeriums. Augenzeugenberichten zufolge richteten sich die Angriffe gegen fünf Häuser im Westen der Stadt Gaza. Rettungskräfte versuchten weiterhin, Dutzende Eingeschlossene zu bergen, sagte der Sprecher.

Insgesamt starben nach Angaben des Ministeriums seit Montagabend 192 Menschen im Gazastreifen. Der israelischen Armee zufolge wurden bei Angriffen dort zahlreiche Vertreter von Hamas und Islamischem Dschihad getötet.

Die Bemühungen internationaler Vermittler, angesichts der zivilen Opfer eine Waffenruhe zu vereinbaren, waren bislang nicht erfolgreich. UN-Generalsekretär António Guterres warnte bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats in New York vor unkontrollierbaren Folgen für den gesamten Nahen Osten. Papst Franziskus forderte ein Schweigen der Waffen. Saudi-Arabien warf Israel "eklatante Verletzungen" der Rechte der Palästinenser vor und rief die Weltgemeinschaft zum Handeln auf. Russland forderte erneut ein Treffen des Nahost-Quartetts von USA, Russland, den Vereinten Nationen und der EU. Für Dienstag war eine Beratung der EU-Außenminister geplant.

Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern war am vergangenen Montagabend eskaliert. Er spitzte sich während des muslimischen Fastenmonats Ramadan und nach der Absage der palästinensischen Parlamentswahl fortlaufend zu. Als Auslöser gelten Polizei-Absperrungen in der Jerusalemer Altstadt, die viele junge Palästinenser als Demütigung empfanden. Hinzu kamen Auseinandersetzungen von Palästinensern und israelischen Siedlern im Jerusalemer Viertel Scheich Dscharrah wegen drohender Zwangsräumungen sowie heftige Zusammenstöße auf dem Tempelberg (Al-Haram al-Scharif) in der Altstadt von Jerusalem. Die Anlage mit Felsendom und Al-Aksa-Moschee ist die drittheiligste Stätte im Islam. Sie ist aber auch Juden heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen. Die islamistische Hamas hat sich zum Verteidiger Jerusalems erklärt.

Der Konflikt mit der Hamas weitete sich in den vergangenen Tagen aus: Im Westjordanland gab es schwere Zusammenstöße von Palästinensern mit israelischen Sicherheitskräften. Die Armee berichtete von mindestens einer versuchten Messerattacke auf Soldaten. Mehrere Menschen starben. Zwischenfälle ereigneten sich auch an Israels Grenzen zum Libanon und zu Syrien. Aus beiden Ländern wurden Raketen auf Israel abgefeuert, die keine Schäden anrichteten.

Der Gaza-Konflikt griff auch auf arabischgeprägte Orte im israelischen Kernland über. In mehreren Städten kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Juden und arabischen Israelis. Dies schürte Sorgen vor einer weiteren tiefen Spaltung der Gesellschaft.

Seit der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen 2007 haben sich Israel und die radikale Palästinenserorganisation drei Kriege geliefert. Israel und Ägypten halten das Gebiet unter Blockade und begründen dies mit Sicherheitserwägungen.

Der jüngste Konflikt eskalierte inmitten eines Regierungsbildungsversuches von Jair Lapid. Der bisherige Oppositionsführer schrieb am Sonntag bei Twitter, hätte Israel eine Regierung, dann würde sich niemand fragen, warum Konflikte immer dann auszubrechen scheinen, wenn es dem Ministerpräsidenten am besten passe. Netanjahu war es nicht gelungen, eine Mehrheit für eine von ihm geführte Koalition zu bilden. Dieser verwahrte sich gegen Vorwürfe, er nutze den Konflikt dazu, um im Amt zu bleiben. "Das ist absurd", sagte der Ministerpräsident bei CBS. Er würde die Sicherheit der Bürger niemals politischen Interessen unterordnen.

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