Berlin/Istanbul. Fachleute sehen eine wachsende Willkür und politische Verhaftungen in der Türkei. Die deutschen Behörden schieben Menschen dennoch ab.

Die Polizisten rennen durch die engen Gassen von Istanbul. Menschen mit Regenbogen-Flagge stellen sich ihnen in den Weg, werden weggeschubst, manche offenbar mitgenommen. Demonstrierende treten in der türkischen Metropole für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender ein – und müssen Festnahmen fürchten. Von einer „Jagd“ sprechen Aktivisten. Von einer „beängstigenden“ Stimmung.

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Mehr als 370 Menschen sind am Wochenende nach Angaben von Hilfsorganisationen bei Protesten von der türkischen Polizei in Gewahrsam genommen worden, darunter offenbar auch ein Fotojournalist der Nachrichtenagentur AFP. Der Protestmarsch war im Vorfeld durch die Istanbuler Stadtregierung verboten worden. Offiziell aus „Sicherheitsgründen“.

Doch Fachleute beobachten seit Jahren eine wachsende Repression gegen Queer-Aktivisten, Schwule und Lesben in dem Land. Produkte mit der Regenbogen-Flagge dürfen per Gesetz nicht an Menschen unter 18 Jahren verkauft werden. Seit 2015 sind die Demonstrationen in Istanbul verboten.

Im Zuge eines „Anti-Terror-Kampfes“ gehen Behörden gegen pro-kurdische Parteien vor

Es ist ein Klima der Repression, über das nicht nur Queer-Aktivisten erschüttert sind. Menschenrechtsorganisationen beklagen vor allem seit dem Putsch-Versuch gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan willkürliche Verhaftungen, politisch motivierte Schauprozesse, Drangsalierungen gegen unabhängige Journalistinnen und Journalisten und Rechtsanwälte.

Mutige Aktivisten: Trotz Verboten treten sie für die Rechte von Schwulen, Lesben, Queer und Transgender in der Türkei ein.
Mutige Aktivisten: Trotz Verboten treten sie für die Rechte von Schwulen, Lesben, Queer und Transgender in der Türkei ein. © dpa | Emrah Gurel

Im Zuge eines „Anti-Terror-Kampfes“ gehen die Behörden immer wieder gegen pro-kurdische Parteien und Medien vor. Und unlängst kritisierte Außenministerin Annalena Baerbock die Verurteilung des Kulturförderers Osman Kavala scharf.

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Doch Deutschland schiebt abgelehnte Asylsuchende immer wieder auch Menschen in die Türkei ab – auch Kurden. Menschenrechtsaktivisten und Asyl-Anwälte sowie die politische Linke kritisieren das seit Jahren. Doch die Zahl der Abschiebungen steigt sogar. „Im Zeitraum Januar bis Mai 2022 wurden insgesamt 204 Personen in die Türkei abgeschoben“, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion.

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Nur eine Minderheit der Kurden aus der Türkei bekommt Schutz in Deutschland

Setzt sich diese Abschiebepraxis fort, würde Deutschland bis Ende 2022 knapp 500 Personen zurück in die Türkei schicken. Im vergangenen Jahr waren es 361 abgeschobene Menschen, 2020 insgesamt 318. vor allem aufgrund von Corona-Lockdowns und Reisebeschränkungen waren die Rückführungen zurückgegangen. Vor der Pandemie lag die Zahl der Abschiebungen bei 429 im Jahr 2019.

Für die Abschiebungen sind die Bundesländer zuständig. Wie viele der zurückgeführten Menschen kurdischer Abstammung sind, wird nicht erfasst. Doch die Zahl dürfte hoch sein.

In Deutschland entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) darüber, ob ein Mensch hierzulande Schutz bekommt. 2021 beantragten laut Bundesregierung 6752 Personen aus der Türkei Asyl in Deutschland. Die Mehrheit, fast 4000, waren demnach kurdischer Abstammung. Doch nur eine Minderheit der kurdischen Schutzsuchenden bekommt einen Aufenthaltstitel zugesprochen: die Gesamtschutzquote liegt bei gut 13 Prozent. Bei den nicht-kurdischen Türken liegt die Gesamtschutzquote 78 Prozent.

Nun prüft das Bundesamt nicht nach „Abstammung“, sondern nach individueller Verfolgung und der Bedrohungslage einer Person. Das Amt muss in jedem Asylverfahren bewerten, wie wahrscheinliche eine politische Verfolgung eines Menschen ist.

Dabei kann die Volkszugehörigkeit eines Menschen jedoch relevant sein. Und: Auch die Sicherheitslage in einem Herkunftsland spielt in Bamf-Leitsätzen eine gewichtige Rolle, sie sind nicht öffentlich. Dort speist das Amt Informationen über die Rechtslage eines Staates ein, etwa aus Lageberichten des Auswärtigen Amtes oder von Nicht-Regierungsorganisationen.

„Bund und Länder dürfen sich nicht länger zu Erfüllungsgehilfen von Erdogan machen“

Die Bundesregierung schreibt selbst, sie sehe „die Lage von Menschenrechten und die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, insbesondere mit Blick auf Oppositionelle und regierungskritische Stimmen, weiterhin mit großer Sorge“. Insbesondere der Druck auf linke, kurdische Aktivisten habe zugenommen.

Zugleich halten die deutschen Behörden fest: „Hinweise zu systematischer Folter oder Misshandlungen liegen der Bundesregierung nicht vor.“ Für „allgemeine Kriminelle“ sieht die Bundesregierung zudem rechtsstaatliche und faire Verfahren nicht gefährdet.

Vor allem in der Corona-Pandemie ging die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland zurück. Jetzt steigen die Fallzahlen wieder an.
Vor allem in der Corona-Pandemie ging die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland zurück. Jetzt steigen die Fallzahlen wieder an. © dpa | Michael Kappeler

Das Bamf hält auf Nachfrage unserer Redaktion fest, es „beobachtet und analysiert die Situation in der Türkei mithin stetig“.

Lehnt das Bundesamt einen Asylantragsteller ab, hat das Bundesland zudem noch immer die Möglichkeit, eine Abschiebung abzulehnen und eine „Duldung“ auszuteilen, etwa aus humanitären Gründen oder weil Ausweisdokumente der Person fehlen. Tausende Kurden aus der Türkei klagen vor deutschen Gerichten gegen die Asylablehnung. Einige haben Erfolg, die meisten scheitern. Und: Mehr als 10.000 Gerichtsverfahren waren 2021 noch anhängig.

Die Linksfraktion im Bundestag übt scharfe Kritik an der Abschiebepraxis der Bundesländer: „Dass der Anstieg bei den Abschiebungen in die Türkei sich weiter fortsetzt, ist höchst besorgniserregend“, sagte Linken-Politikerin Clara Bünger unserer Redaktion. „Wir wissen aus der Praxis, dass von diesen Abschiebungen immer wieder Menschen betroffen sind, denen in der Türkei willkürliche Haft, Folter und andere gravierende Menschenrechtsverletzungen drohen.“

Bünger fordert ein Abschiebestopp in die Türkei. „Bund und Länder dürfen sich nicht länger zu Erfüllungsgehilfen von Erdogans Unterdrückungspolitik machen.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de