Berlin . Russlands Angriff auf die Ukraine ist laut Fachleuten ein Verstoß gegen Völkerrecht. Bis zur Anklage gegen Putin ist es ein weiter Weg.

Die Bilder gehen um die Welt: Mauern sind eingerissen, Stahl und Schrott hängen von den Wänden, Rausch schwebt noch durch die Luft von dem Feuer des Einschlages. Vor einigen Tagen melden ukrainische Behörden einen Angriff der russischen Armee auf ein Kinderkrankenhaus in der Hafenstadt Mariupol.

Es ist ein weiteres Indiz dafür, dass Russland im Ukraine-Krieg gezielt auch zivile Gebäude, unschuldige Menschen, ins Visier nimmt. Das wirft ernsthafte Fragen danach auf, ob und in welchem Ausmaß russische Truppen Kriegsverbrechen begehen. Tatsächlich hat nun die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe Ermittlungen aufgenommen.

Ukraine-Krieg: Mehrere Ermittler gehen zeitgleich dem Fall nach

Der Internationale Gerichtshof, das höchste Gericht der Vereinten Nationen, hat am Mittwoch (16. März) angeordnet, dass sofort die militärische Gewalt durch Russland in der Ukraine stoppen muss. Die ukrainische Regierung hatte beim IGH in Den Haag eine Klage eingereicht.

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Weltweit sind verschiedene Gerichtshöfe verantwortlich, Verbrechen in einem Krieg zu bestrafen. Dass nun mehrere Ermittler zeitgleich dem Fall nachgehen, ist durchaus legitim, kann sogar Prozessstrategie sein. Wer jetzt wie handeln könnte. Ein völkerrechtlicher Blick auf den Ukraine-Krieg.

Verstößt Russland mit dem Einmarsch in der Ukraine gegen das Völkerrecht?

Antwort: Eindeutig ja. Das zentrale Dokument des internationalen Völkerrechts ist die Charta der Vereinten Nationen, die so gut wie alle Staaten der Welt anerkannt haben, 193 insgesamt. Auch Russland. Es ist ein Manifest für den Weltfrieden. Artikel 2 ruft dazu auf, „Streitigkeiten friedlich“ beizulegen. Entscheidend ist hier Absatz 4: Gewalt „gegen die territoriale Unversehrtheit“ oder die „politische Unabhängigkeit eines Staates“ ist untersagt.

Ukraine, Mariupol: Ukrainische Rettungskräfte und Freiwillige tragen eine verletzte schwangere Frau aus einer Entbindungsklinik, die durch Beschuss in Mariupol, Ukraine, beschädigt wurde.
Ukraine, Mariupol: Ukrainische Rettungskräfte und Freiwillige tragen eine verletzte schwangere Frau aus einer Entbindungsklinik, die durch Beschuss in Mariupol, Ukraine, beschädigt wurde. © dpa | Evgeniy Maloletka

Mit dem Grenzübertritt haben Putins Panzer gegen die UN-Charta verstoßen. Und schon die Androhung von Gewalt ist ein Völkerrechtsbruch – so ließ Putin vor dem Einmarsch die Truppen massenhaft an der ukrainischen Grenze aufziehen. Ein Verstoß gegen das „Aggressionsverbot“.

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Zwar wendet sich Russlands Präsident in Reden mehrfach scharf dagegen, dass die Ukraine überhaupt „echte Staatlichkeit“ besitze. Doch das ist Propaganda. Die Ukraine hat ein Territorium, ein Volk und eine Regierung, die das Gewaltmonopol innehat: drei völkerrechtliche Merkmale eines souveränen Staates. Nach dem Fall der Sowjetunion stimmten 90 Prozent der Menschen für die Unabhängigkeit. Im Budapester Memorandum von 1994 erkannte Russland die Ukraine an – im Gegenzug verzichtete die Ukraine auf Nuklearwaffen.

Zählt Putins Argument, er wolle in der Ostukraine einen „Genozid“ verhindern?

Nein, das Argument ist vorgeschoben. Russlands Staatschef rechtfertigt seinen Angriff auf die Ukraine mit einem angeblichen „Genozid“ an russischstämmigen Menschen in der Ostukraine. Tatsächlich leben in der Ukraine, vor allem im Osten, viele Menschen, die Russisch sprechen und Russland nahestehen. Doch Hinweise auf einen Völkermord durch ukrainisches Militär an diesem Bevölkerungsteil gibt es nicht.

Putin konstruiert sich mit der Legende vom „Genozid“ einen Kriegsgrund. Völkerrechtlich bliebe der Angriffskrieg aber selbst dann rechtswidrig. „Selbst wenn man sich auf diese Argumentation einlassen würde, ist ein militärischer Einmarsch im gesamten Land rechtlich nicht das geeignete Mittel, um angeblich russische Bevölkerungsteile im Osten des Landes zu schützen“, sagt Stefanie Bock, Professorin für Internationales Strafrecht an der Philipps-Universität Marburg, im Gespräch mit unserer Redaktion. „Wenn es um den Schutz der Menschen im Osten der Ukraine geht, warum muss dann Kiew eingenommen werden?“ Selbst in Putins Logik wäre der Angriff auf die Ukraine ein Verstoß gegen die rechtlich festgeschriebene „Verhältnismäßigkeit der Mittel“.

Warum ist es so schwer, Putins für Völkerrechtsverstöße vor ein Gericht zu ziehen?

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ist das globale Gericht, das Verstöße gegen internationales Recht feststellen soll, auch Verstöße gegen völkerrechtliche Verträge. Nur: Russland boykottiert das Gericht. Wie etliche andere Staaten auch, darunter auch die USA und Frankreich.

Die Ukraine hat aber nun zumindest „einen cleveren Schachzug unternommen“, wie Christoph Safferling, Professor für Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, im Gespräch mit unserer Redaktion sagt. Die Regierung in Kiew hat den Internationalen Gerichtshof angerufen, um den Vorwurf Russlands eines angeblichen Völkermords in der Ukraine prüfen zu lassen.

„Stellt der Gerichtshof keinen Genozid fest, folgt daraus indirekt, dass Russlands Führung einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt“, sagt Safferling. Denn genau das war ja Putins angebliche Rechtfertigung für den Einmarsch.

Nun entschied der Gerichtshof in Den Haag tatsächlich, dass der Angriff Russlands ein Verstoß rechtswidrig ist. Es ist das erste internationale Gerichtsurteil zum Krieg in der Ukraine. Die Gewalt müsse sofort enden, sagte die Präsidentin des IGH, Joan Donoghue. Dieser Einsatz führe zu unzähligen Toten und Verletzten.

Nur: Druckmittel hat das Gericht in Den Haag nicht. Die russische Führung dürfte dem Urteil kaum Folge leisten. Einzig: Der Richterspruch ist ein weiteres internationales Druckmittel gegen die Regierung in Moskau. Und: Es hat eine Signalwirkung nach Kiew -- eine weitere Unterstützung im Kampf gegen die russische Invasion.

Was genau sind eigentlich Kriegsverbrechen?

Kriegsverbrechen sind nicht eindeutig definiert. Aber es gibt Dokumente, die klare internationale Regeln vorgeben. Zentral ist die Genfer Konvention, schon 1864 ins Leben gerufen. Sie soll das humanitäre Völkerrecht schützen, Zivilisten im Krieg, aber auch die Soldaten, die ebenfalls Rechte haben. Auch Russland hat die Konvention unterzeichnet.

Die schwersten Verbrechen wie Völkermord und Kriegsverbrechen sind im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag definiert. Etwa Folter, Vergewaltigungen und Plünderungen, aber auch gezielte Angriffe gegen Zivilisten, der Einsatz von bestimmten Waffen wie etwa Streubomben. „Wichtig ist, dass dem Beschuldigten Vorsatz nachgewiesen werden muss; er muss also wissen und wollen, dass Zivilisten angegriffen, Krankenhäuser zerstört werden“, sagt Strafrechtlerin Bock. „Sterben Zivilisten bei einem Angriff auf militärische Objekte, ist das kein Kriegsverbrechen, wenn die Schäden unter der Zivilbevölkerung nicht unverhältnismäßig hoch sind. Man spricht insoweit von Kollateralschäden.“

Polen, Medyka: Frauen tragen ihre Kinder auf dem Arm, nachdem sie aus der Ukraine nach Polen geflohen sind. Aus der Ukraine sind seit Beginn des russischen Einmarschs mehr als zwei Millionen Menschen geflohen.
Polen, Medyka: Frauen tragen ihre Kinder auf dem Arm, nachdem sie aus der Ukraine nach Polen geflohen sind. Aus der Ukraine sind seit Beginn des russischen Einmarschs mehr als zwei Millionen Menschen geflohen. © dpa | Daniel Cole

Ist Russlands Präsident Wladimir Putin ein Kriegsverbrecher?

Das wird ermittelt. Bisher steht der Vorwurf der Ukraine im Raum, aber auch die Stimmen der Fachleute mehren sich, dass es Hinweise auf russische Kriegsverbrechen bei der Invasion in die Ukraine gibt. „Was wir nun in Fotos und Videos in den sozialen Netzwerken beobachten, sind Hinweise auf die Bombardierung von Städten und Dörfern, aber auch von völkerrechtlich besonders geschützten Einrichtungen wie Krankenhäusern“, sagt Völkerrechtler Safferling. Und dennoch gilt auch: Eine unabhängige Überprüfung von einzelnen militärischen Aktionen der russischen Armee sind inmitten des Kriegsgeschehen nicht einfach. Noch schwieriger ist es, am Ende Putin dafür zur Verantwortung zu ziehen.

Denn anders als bei Verstößen gegen Verträge des Völkerrechts braucht ein Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen einen klaren Beschuldigten. Das könne ein einfacher Soldat sein, der an der Front eine Frau vergewaltigt haben soll, hebt Professorin Bock hervor. Das könne ein Kommandeur sein, der den Beschuss eines Krankenhauses befehligt hat. Das kann aber auch ein Regierungschef sein: in diesem Fall Wladimir Putin, wenn dieser etwa den gezielten Beschuss von Zivilisten angeordnet hätte.

Strafrechtlerin Bock: „Es häufen sich Berichte über die Zerstörung von Kliniken und Schulen und die Tötung von Flüchtenden. Wenn Russland – wie offenbar von den USA befürchtet – chemische und biologische Waffen einsetzen würde, wäre dies völkerrechtswidrig.“

Dass Putin die Entscheidung für diesen völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine gefällt hat, dürfte rechtlich wenig fraglich sein. Er ist Präsident und damit Oberbefehlshaber über das Militär. Dass Putin den gezielten Beschuss von Kliniken, Schulen oder Wohnblöcken angeordnet hat, ist deutlich schwerer zu ermitteln.

Wer ermittelt nun gegen Putin und Russlands Führung zu Kriegsverbrechen?

Neben dem Internationalen Gerichtshof gibt es im niederländischen Den Haag noch eine zweite Institution: den Internationalen Strafgerichtshof, kurz IStGH. Eine Art Weltstrafgericht. Und obwohl Russland auch dieses Gericht nicht anerkannt hat, können die Richter bei schweren Gräueltaten etwa gegen Zivilisten ermitteln – gegen die russische Armee, aber auch gegen Putins selbst.

Der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, hatte angekündigt, dass Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine bereits angelaufen sind. Das aber kann dauern. Deshalb startete Khan zeitgleich einen Appell an alle Kriegsbeteiligten, keine Gräueltaten zu verüben.

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Auch in Deutschland dürfen Staatsanwaltschaften wegen schwerer Kriegsverbrechen wie Völkermord ermitteln – obwohl die mutmaßlichen Straftaten nicht in Deutschland spielen und auch keine Deutschen beteiligt sind. Grundlage ist das „Weltrechtsprinzip“. Unter diesem Leitbild haben deutsche Staatsanwälte auch schon Anklage etwa gegen syrische Militärs wegen des Völkermords an den Jesiden gestartet. Nun ermitteln sie auch in Sachen Ukraine-Krieg.

Wie hoch ist die Strafe, die Putin droht?

Das hängt zum einen von dem weiteren Verlauf des Krieges ab – und vor allem davon, welche mutmaßlichen Kriegsverbrechen am Ende direkt Russlands Staatschef zugeschrieben werden können. Wie rigoros Richterinnen und Richter urteilen können, zeigt ein Fall am Frankfurter Gericht: Dort wurde ein Iraker verurteilt, weil er eine junge Jesidin versklavt hatte. Das Mädchen starb. Das Urteil gegen den Täter: lebenslang.

Doch der Mann war kein Staatschef, sondern „einfacher Kämpfer“ der Terrormiliz „Islamischer Staat“. In der Praxis dürfte es schwer sein, einen Haftbefehl gegen Putin zu vollstrecken, selbst wenn genügend Belege für Kriegsverbrechen vorliegen. „Er genießt als Staatschef zumindest auf nationaler Ebene Immunität. Dass russische Verantwortliche Putin ausliefern, ist unwahrscheinlich“, sagt Strafrechtsprofessorin Bock.

Wie zahnlos internationale Gerichte sein können, zeigt auch der Fall des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Das ist eine Institution des Europarats. Russland ist Mitglied, müsste die Rechtssprechung anerkennen. Der EGMR hat Anfang März an die russische Führung appelliert, Angriffe gegen zivile Ziele wie Kliniken und Wohnsiedlungen zu unterlassen. Russland ignoriert das. Sanktionsmöglichkeiten durch den Europarat: eher wenig. Russland ging noch weiter – und zog sich kurzerhand einfach aus dem Gremium zurück.

Sind deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine vom Völkerrecht gedeckt?

Eindeutig: Ja. Als Reaktion auf Russlands Angriff in die Ukraine liefert Deutschland, wie auch andere Staaten, Waffen an das ukrainische Militär. Deutschland mischt sich in den Konflikt ein. Das ist vom Völkerrecht gedeckt. Artikel 51 der UN-Charta hält das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ fest. Kollektiv heißt hier: auch mit Partnern.

Dennoch läuft die Ausfuhr von Waffen aus Deutschland nicht ohne Regeln ab. Hier greift das Kriegswaffenkontrollrecht und Außenwirtschaftsrecht. „Hier muss jede Ausfuhr also von der Bundesregierung genehmigt werden“, sagt Professor Safferling.

Niederlande, Den Haag: Der Internationale Strafgerichtshof.
Niederlande, Den Haag: Der Internationale Strafgerichtshof. © dpa | Peter Dejong

Sind Sanktionen gegen Russland durch den Westen vom Völkerrecht gedeckt?

Ja. Staaten können entweder auf eigene Faust oder im Bündnis mit anderen Sanktionen verhängen, um ein Regime zum Einlenken zu bewegen. In diesem Fall: um Putin zu stoppen. Kritiker harter Sanktionen heben hervor, dass oftmals nicht so sehr die Herrschaftselite eines Staates – sondern viel mehr die Zivilbevölkerung. Hohe Strompreise, knappe Güter, Reisebeschränkungen.

Das ist jedoch vor allem eine politische Frage, keine juristische. Rechtlich trägt ein Staat die alleinige Verantwortung dafür, die Menschen in dem Land mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. In dem aktuellen Fall: Putins Regierung. Egal, wie hart die internationalen Sanktionen das Land treffen.

Dürfen Deutsche freiwillig in die Ukraine ziehen und dort kämpfen?

Ja. Zunächst einmal ist es für deutsche Staatsangehörige möglich, ins Ausland zu ziehen und sich an Kämpfen zu beteiligen. Das ist nicht strafbar. Auch das Töten nach den Regeln des Kriegsrechts ist kein Mord. Das Völkerrecht schützt auch Soldaten. Allerdings: Das internationale Recht schützt keine Guerillakämpfe durch Zivilisten. Wer in den Kampf zieht, sich aber nicht einem Militärverband anschließt und sich durch eine Uniform zu erkennen gibt, verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht. Zivilisten haben im Krieg kein sogenanntes „Schädigungsrecht“, anders als Soldaten.

Nach den ersten Kriegstagen rief der ukrainische Präsident Selenskyj Freiwillige in Europa auf, gegen Russland in den Kampf zu ziehen. „Kommen Sie zu uns und verteidigen Sie mit uns Europa.“ Das ist strafbar. In Paragraf 109 h im Strafgesetzbuch verbietet das „Anwerben für fremden Wehrdienst“. Das dürfte allerdings nicht zu Ermittlungen gegen Selenskyj führen. „Die Bundesregierung hat hier schon signalisiert, dass sie diese Verstöße nicht verfolgen will“, sagt Strafrechtlerin Bock. „Somit können deutsche Freiwillige in der Ukraine kämpfen.“