Ein wichtiger Berater von Präsident Selenskyj wirft der Bundesregierung eine Blockade bei schärferen Sanktionen gegen Russland vor.

Die ukrainische Regierung hat sich enttäuscht darüber geäußert, nicht genug Waffen von Deutschland zu erhalten. Der außenpolitische Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, Ihor Zhovkva, sprach mit unserer Redaktion darüber.

Herr Zhovkva, wie ist die Kriegslage in der Ukraine?

Ihor Zhovka: Russland ist mit seiner Vorstellung, größere Städte in drei bis fünf Tagen per Blitzkrieg einzunehmen, gescheitert. Selbst wenn es russischen Truppen gelungen ist, kleinere Städte im Süden wie zum Beispiel Cherson einzukreisen, konnten sie dort keine Marionetten-Verwaltungen installieren. Die Ukrainer protestieren auf der Straße, schwenken die Nationalflagge und singen die Nationalhymne.

Wozu die russischen Streitkräfte jetzt aber übergegangen sind: Sie greifen unsere Städte aus Militärflugzeugen an, die über dem Schwarzen Meer fliegen. Dabei schießen sie Raketen mit größerer Reichweite ab, zum Beispiel solche vom Typ Kalibr.

Ihor Zhovka, Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, wirft der Deutschland Blockade bei der Verhängung scharfer Sanktionen gegen Russland vor.
Ihor Zhovka, Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, wirft der Deutschland Blockade bei der Verhängung scharfer Sanktionen gegen Russland vor. © Office of the President of Ukraine | Office of the President of Ukraine

Wo ist die Situation am kritischsten?

Zhovka: Eindeutig in Mariupol im Süden des Landes. Die Stadt ist nicht nur eingekreist, sondern auch total von der Außenwelt abgeschnitten. Mariupol liegt in Schutt und Asche, ist praktisch vom Erdboden verschwunden. Was hier geschieht, ist Völkermord. Die Russen bombardieren alle 15 Minuten zivile Ziele in der Stadt. Seit Wochen können die Menschen Mariupol nicht mehr verlassen. Die Russen haben uns daran gehindert, in breiter Form humanitäre Korridore zu errichten, obwohl das vereinbart war. Sie haben sogar humanitäre Konvois blockiert, die Lebensmittel und Medikamente in die Stadt bringen wollten.

Einigen Menschen gelang die Flucht auf eigene Faust zu Fuß. Zudem haben die Russen mehr als 15.000 Einwohner von Mariupol gewaltsam deportiert – in Gebiete im Donbass, die von Russen kontrolliert werden, oder nach Russland. Trotzdem wollen sich die Menschen nicht ergeben.

Wie schlimm sieht es in der Hauptstadt Kiew aus?

Zhovka: Die Stadt funktioniert. Rund zwei Millionen Menschen sind noch da. Der öffentliche Nahverkehr läuft, die Läden sind offen – wenn auch alles mit beschränkter Kapazität. Der militärische und der zivile Teil der Verwaltung bereiten sich darauf vor, die Stadt zu verteidigen. Sie legen den notwendigen Vorrat an Lebensmitteln an für den Fall, dass Kiew eingekreist wird.

Bis jetzt haben das die Russen nicht einmal zur Hälfte geschafft. Mit ihrer jetzigen Personalstärke wird es ihnen auch nicht gelingen, Kiew einzukreisen. Sie müssten die Zahl ihrer Kräfte verdoppeln oder verdreifachen.

Die Aufräumarbeiten gehen nach dem Angriff auf das Retroville-Einkaufszentrum in Kiew weiter. Mindestens acht Menschen wurden dabei getötet.
Die Aufräumarbeiten gehen nach dem Angriff auf das Retroville-Einkaufszentrum in Kiew weiter. Mindestens acht Menschen wurden dabei getötet. © Carol Guzy/ZUMA Press Wire/dpa

Wie lange kann die Ukraine den Russen Widerstand leisten?

Zhovka: Das hängt von unseren Partnern im Westen ab, einschließlich Deutschlands. Deutschland hat sich vor Beginn des Krieges geweigert, Waffen an die Ukraine zu liefern. Jetzt bekommen wir einige Waffen – aber das ist bei Weitem nicht genug, es ist viel zu spät und viel zu langsam. Uns geht der Nachschub an Waffen am Boden aus. Was noch schlimmer ist: Uns fehlt es an militärischen Luft-Kapazitäten.

Deshalb hat Präsident Wolodymyr Selenskyj die Nato gebeten, eine Flugverbotszone über der gesamten Ukraine zu errichten oder zumindest den Luftraum teilweise abzuriegeln, um humanitäre Lieferungen zu ermöglichen.

Welche Waffen braucht die Ukraine am dringendsten von Deutschland?

Zhovka: An erster Stelle wären dies Anti-Panzer- oder Boden-Luft-Raketen. Aber wenn Deutschland diese Waffen nicht an uns liefern will, sollte es zumindest andere Partner nicht blockieren, uns zu helfen. Alle unsere Waffenwünsche liegen bei den Regierungen westlicher Länder auf dem Tisch. Wenn die Nato nicht in der Lage ist, in der Ukraine als Militärallianz zu handeln, zählen wir auf die bilaterale Unterstützung unserer Partner. Deutschland sollte das nicht verhindern.

Wenn die russische Aggression nicht in der Ukraine gestoppt wird, wird sie weitergehen. Andere Länder in der Nato oder in der EU werden dann sehr wahrscheinlich angegriffen.

Ukrainische Soldaten in Charkiw.
Ukrainische Soldaten in Charkiw. © dpa

Leider befindet sich Deutschland auch an vorderster Front, wenn es um das Nein zu härteren Sanktionen gegen Russland geht. Zum Beispiel mit Blick auf einen totalen Import-Stopp für Gas, Öl und Kohle. Oder beim Einfrieren aller russischen Konten in Europa beziehungsweise beim Ausschluss aller russischen Banken vom internationalen Zahlungssystem Swift. Jeder Dollar, der für russisches Gas gezahlt wird, kommt der russischen Armee zugute.

Es gibt Berichte, wonach Kämpfer aus Tschetschenien und Syrien russische Truppen in der Ukraine unterstützen. Stimmt das?

Zhovka: Nach Erkenntnissen unseres Militärgeheimdienstes wurden keine Kämpfer aus Syrien gesehen. Tschetschenische Kämpfer wurden hingegen in einigen Dörfern und Städten bemerkt. Aber diese Kräfte sind weit weg vom Mythos des starken, unbesiegbaren tschetschenischen Kriegers. Sie sehen eher armselig und ungeeignet für den Kampf aus.

Tschetscheniens Diktator Ramsan Kadyrow bei einem Treffen mit Wladimir Putin.
Tschetscheniens Diktator Ramsan Kadyrow bei einem Treffen mit Wladimir Putin. © Alexey NIKOLSKY / SPUTNIK / AFP

Wie laufen die Gespräche zwischen der Ukraine und Russland?

Zhovka: Wir waren von Anfang an auf ernsthafte Gespräche vorbereitet. Es gab zunächst eine Vereinbarung über die Errichtung von einigen humanitären Korridoren. Aber die Russen haben das in Mariupol blockiert. Trotzdem gehen die bilateralen Gespräche in den Gruppen und Untergruppen im Video-Format weiter. Bislang gibt es keine größeren Ergebnisse. Die Russen versuchen, auf Zeit zu spielen. Die einzigen ernsthaften Verhandlungen, die zum Frieden führen könnten, wären auf der Ebene der Präsidenten – aber Russland sperrt sich dagegen.

Wenn die Ukraine nicht Nato-Mitglied werden kann, will sie zumindest verbindliche Sicherheitsgarantien. An welche Länder denken Sie dabei?

Zhovka: An erster Stelle stehen die USA, das Vereinigte Königreich, Deutschland, Frankreich und die Türkei. Aber wir wollen nicht unsere Erfahrung mit dem Budapester Memorandum von 1994 wiederholen. Damals hatte die Ukraine auf ihre Atomwaffen verzichtet – im Gegenzug verpflichteten sich Russland, die USA und das Vereinigte Königreich darauf, die Souveränität der Ukraine zu sichern. Das klappte weder 2014 noch 2022. Was wir jetzt brauchen, ist ein globaler Mechanismus an Garantien für die Ukraine.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Die Ukraine hat die EU-Mitgliedschaft beantragt. Gibt es irgendwelche Signale?

Zhovka: Der Prozess läuft nach EU-Standards in rasanter Geschwindigkeit, aber aus der Sicht der Ukraine ist es eher Schneckentempo. Wir bitten die EU-Kommission und die EU-Mitgliedstaaten, so schnell wie möglich zu handeln. Das wäre ein sehr symbolischer Akt für unsere Soldaten in den Schützengräben, die Zivilisten, die bombardiert werden, die Frauen in den Geburtskliniken und die Kinder, die eine europäische Zukunft haben wollen.

Vieles hängt von Deutschland ab, die Lokomotive in der EU. Eine große Mehrheit der Bundesbürger ist für den EU-Beitritt der Ukraine. Kanzler Olaf Scholz sollte auf die Meinung in der Gesellschaft hören.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.