Berlin . Der Ukraine-Krieg läuft schlecht für Putin. Verlieren kann er ihn aber nicht – droht der Einsatz von Atomwaffen auf taktischer Ebene?

Putins Offensive scheint in den letzten Tagen zum Erliegen gekommen zu sein. Zwar gehen Bombardierung und Beschuss von Städten wie Mariupol, Charkiw und Kiew unvermindert weiter, fordern immer wieder Menschenleben und sorgen für katastrophale humanitäre Zustände. Aber nennenswerte Geländegewinne konnte die russische Armee zuletzt nicht mehr erzwingen.

Was gute Nachrichten aus Sicht der Ukraine und des Westens sind, kann sich in den nächsten Wochen in das Gegenteil verkehren. Denn es ist äußerst fraglich, ob sich der russische Despot nach einer verlorenen Schlacht um Kiew mit einer blutigen Nase an den Verhandlungstisch setzen wird.

"Wladimir Putin kann nicht verlieren", analysierte die US-Außenpolitikberaterin Fiona Hill unlängst die verfahrene Situation in der Ukraine. Zu eng sei der Präsident mit dem russischen Staat inzwischen verwoben, als dass eine Niederlage Russlands in der Ukraine nicht sofort als eine Niederlage Putins gedeutet werden würde.

Für die Bewohnerinnen und Bewohner von Kiew oder Charkiw kann das zu einer Situation führen, die noch gefährlicher als die gegenwärtige ist. Nicht nur weil dann mit noch mehr Beschuss und letztlich Häuserkampf gerechnet werden muss. Sondern auch, weil die russische Armee neben allen konventionellen Tötungswerkzeugen noch weitere, wesentlich furchtbarere Waffen im Arsenal hat: taktische Atomwaffen in Form von Bomben und Granaten.

Was ist eine taktische Atomwaffe?

Rund 2000 solcher Sprengsätze sollen in russischen Arsenalen liegen. Die verfügen zwar über wesentlich weniger Sprengkraft als die strategischen Waffen der russischen Raketenarmee – sorgen auf kleinerer Fläche aber für nicht minder apokalyptische Wirkung. Lesen Sie dazu auch: Krieg in der Ukraine – Welche Rolle spielen Atomwaffen?

Zum Einsatz können solche Waffen kommen, in dem sie etwa

  • als Munition von schwerer Artillerie verschossen werden,
  • als Bomben unter die Tragflächen von Jagdbombern gehängt werden
  • oder als Torpedos von U-Booten aus.
  • Auch Marschflugkörper wie die Iskander- und Kalibr-Raketen können taktische Sprengköpfe tragen.

Sie sind speziell für den Einsatz auf dem Schlachtfeld konzipiert, und dienen - anders als strategische Atomwaffen, nicht der Abschreckung. Entsprechend liegt ihre Sprengkraft zwischen einer Kilotonne und 100 Kilotonnen TNT-Äquivalent. Zum Vergleich: Die von den USA im Zweiten Weltkrieg eingesetzten Atomwaffen hatten 12,5 beziehungsweise 22 Kilotonnen. Bei strategischen Waffen bewegt sich die Sprengkraft meist im Bereich von mehreren Hundert Megatonnen.

Atomgranaten: Bereitet Russland einen Einsatz vor?

Für ihren Einsatz sprechen derzeit zwei Dinge: Einerseits hat die russische Armee bereits Artilleriesysteme in die Ukraine, oder ihre unmittelbare Nähe, verlegt, mit denen auch Atomgranaten verschossen werden können. Immer wieder waren in den sozialen Netzwerken Videos zu sehen von 2S7M-Malka-Haubitzen und großen 240-Milimeter-Tjulpan-Mörsern, das Z-Zeichen auf die Lafetten gemalt. Die Waffen verschießen ihre Munition über mehrere Dutzend Kilometer Reichweite.

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In einem Faktencheck des German Institute for Defence an Strategic Studies (GIDS) an der Bundeswehruniversität Hamburg heißt es zum möglichen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine, die Verlegung der schweren Artillerie vom Typ 2S7M sei "ein Indikator für die Heranführung von Dual-Capable Systemen (Waffensysteme, die sowohl konventionelle als auch nukleare Munition verschießen, d. Red.), "die zu gegebener Zeit nukleare Gefechtsfeldwaffen einsetzen könnten".

Erst im Dezember 2021 seien die alten sowjetischen Geschütze wieder in Dienst gestellt worden – also in Vorbereitung auf die Invasion der Ukraine. Sollte der Befehl zum Einsatz taktischer Sprengköpfe kommen, wäre dieser also in kurzer Zeit zu erreichen. Denn Russland hält die entsprechenden Kräfte dafür bereits vor.

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Taktische Nuklearwaffen: Alarmbereitschaft bereits angehoben

Andererseits hat Russland bereits in den ersten Kriegstagen seine nukleare Abschreckungsbereitschaft erhöht. Damit sind nicht nur strategische Waffen gemeint, sondern nach Expertenanalyse gerade auch die Taktischen.

Die spielen in der russische Militärdoktrin eine wesentliche Rolle. Konventionell unterlegen, kann – und soll – die russische Armee im Zweifelsfall mittels taktischen Atomwaffeneinsatzes die Situation zu ihren Gunsten verändern. Nukleare Granaten können etwa Breschen in eine Verteidigung schlagen, ohne dass eigentliche Ziel ganz zu vernichten.

Ähnliche Überlegungen prägten im Kalten Krieg lange Zeit die Doktrin der Nato. Im Falle einer sowjetischen Invasion sah die den massiven Einsatz taktischer Nuklearwaffen wie Atomgranaten oder der B61-Freifallbomben vor, weil die konventionellen Kräfte der US-Armee oder Bundeswehr denen der Sowjet-Armeen unterlegen waren.

Im GIDS-Faktencheck heißt es dazu, die Anhebung der russischen Alarmbereitschaft sei ein Zeichen dafür, dass "Russland seine konventionellen Formationen nuklear stärken will, insbesondere für den Fall, dass eine etwaige konventionelle Niederlage vor Kiew drohen könnte".

Die wichtigsten Fakten über Nuklearwaffen

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    Taktischer Atomwaffeneinsatz: Mittel der psychologischen Kriegsführung

    Schließlich dürfte Putin auch darauf spekulieren, dass schon der Einsatz nur einer einzigen solchen Atomgranate den psychologischen Krieg zu seinen Gunsten wenden wird. Die Moral der Verteidiger dürfte angesichts der schieren Kraft einer solchen Waffe (und des Willens zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen) schwer leiden, vielleicht zusammenbrechen.

    Ähnliche Überlegungen verleiteten die USA 1945 zum Abwurf der ersten Atombomben über Japan. Die japanische Regierung kapitulierte am 2. September im Angesicht der schieren Zerstörungskraft, der Zweite Weltkrieg im Pazifik war beendet.

    Aber auch im Westen dürften die Strategen und Strateginnen zwischen Washington, Brüssel und Warschau in diesem Fall zu einer neuen Bewertung der Situation kommen – und am Ende die Regierung Selenskyj dazu drängen wollen, sich einem russischen Friedensdiktat zu beugen.

    Ob es am Ende wirklich zum Einsatz taktischer Atomwaffen kommt, dürfte davon abhängen wie schwer der Kampf um Kiew tobt, wie hoch die Verluste unter russischen Armeeangehörigen sind und ob vorher, oder im Verlauf, nicht doch eine Verhandlungslösung gefunden werden kann. Zumindest in einem Punkt hat die ukrainische Regierung bereits Kompromissbereitschaft angedeutet: Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ist verhandelbar.

    Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de

    Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt