London. Am Mittwoch urteilt das höchste Gericht. Doch auch ein Nein zum neuen Referendum dürfte die Unabhängigkeitsbewegung nicht stoppen.

Das Chaos und die Wirren in Westminster haben die Unabhängigkeitsbewegung in Schottland gestärkt. In einem Jahr will die Regierung in Edinburgh ein zweites Referendum abhalten – aber zunächst steht am Mittwoch ein wichtiger Gerichtsentscheid an.

Zunächst einmal hatte Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands, freundliche Worte bereit für den neuen Regierungschef. „Ich wünsche Ihm alles Gute, ungeachtet unserer politischen Differenzen“, schrieb sie, nachdem Rishi Sunak Ende Oktober als neuer Premierminister feststand.

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Aber dann ging es gleich zur Sache: Sunak solle sofort Neuwahlen ausrufen. „Und was Schottland anbelangt: Er ist ein weiterer Premierminister, den wir nicht gewählt haben, und den wir, wenn wir eine Stimme gehabt hätten, ganz bestimmt nicht gewählt hätten.“ Ihr Lösungsvorschlag ist kaum überraschend: Unabhängigkeit.

Schottland wartet auf den Richterspruch

Am Mittwoch erfolgt der nächste Schritt in der Kampagne für die schottische Eigenständigkeit: Das Londoner Supreme Court, das oberste Gericht in Großbritannien, wird entscheiden, ob Edinburgh im nächsten Jahr auf eigene Faust ein Unabhängigkeitsreferendum abhalten darf.

Sturgeon, die auch Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP) ist, verfolgte das Geschehen in der britischen Hauptstadt in den vergangenen Monaten mit ähnlichem Entsetzen wie viele andere Briten. „Es gibt keine Worte, die diesen Schlamassel angemessen beschreiben können“, sagte sie, als Premierministerin Liz Truss im Oktober nach sechs chaotischen Wochen ihren Rücktritt bekannt gab.

Aber andererseits dürfte die Erste Ministerin auch eine Chance gewittert haben: Je grotesker das politische Hickhack in London, desto mehr werden sich die Schotten fragen, ob sie überhaupt noch Teil dieses Staates bleiben wollen. Für die schottische Unabhängigkeitsbewegung ist die Regierungskrise in Westminster die beste Werbung.

Auch ein Nein der Richter würde den Trend nicht stoppen

Neue Umfragen bestätigen das: Das Forschungsinstitut Yougov publizierte Mitte Oktober eine Erhebung, in der die „Yes“-Seite – für die Unabhängigkeit – vier Prozentpunkte zugelegt hatte. Derzeit halten sich die Ja- und Nein-Lager in etwa die Waage. Unmittelbares Problem für die SNP ist jedoch, dass sie nach derzeitigem Stand kein Referendum organisieren kann.

Laut dem Schottland-Gesetz von 1998, das einen Teil der Entscheidungsgewalt von London an Edinburgh übertrug, bleiben konstitutionelle Angelegenheiten der Regierung in London vorbehalten. Allerdings haben Rechtsexperten noch nicht explizit gesagt, ob das auch auf ein Unabhängigkeitsreferendum zutrifft. In der ersten Abstimmung im September 2014, die mit einem Sieg für die „No“-Kampagne endete, erübrigte sich diese Frage: London gab von vorneherein grünes Licht.

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Im Juli entschloss sich die schottische Regierung, ein für alle Mal Klarheit zu schaffen. Sie hat ein Referendum für Oktober 2023 angekündigt, und gleichzeitig das Supreme Court in London gebeten, zu prüfen, ob die schottische Regierung diese Volksbefragung eigenhändig aufgleisen darf. Der Entscheid erfolgt am Mittwoch Vormittag. Auch wenn er negativ ausfällt, wird das den Drang zur Unabhängigkeit kaum schmälern.

Absturz der britischen Wirtschaft beflügelt Unabhängigkeitsbewegung

Bereits jetzt ist neuer Schwung in der Unabhängigkeitsbewegung zu spüren. Die Angst vor Instabilität und Unsicherheit, die eine Abspaltung von England nach sich ziehen könnte, war stets das schlagende Argument der Gegner – aber jetzt scheint der Fall genau umgekehrt. Während die Regierung in London fast die Wirtschaft in den Abgrund gestürzt hätte und von der Notenbank gerettet werden musste, macht die Politik in Edinburgh einen überaus stabilen Eindruck.

Die Anarchie in Westminster ist nur der jüngste einer ganzen Reihe von Faktoren, die der Unabhängigkeitsbewegung in den vergangenen Jahren Auftrieb gegeben hat. Am wichtigsten ist der Brexit. Die Schotten stimmten 2016 mit 62 Prozent deutlich für den Verbleib in der EU. Sie wurden also gegen ihren Willen aus der EU gezerrt. Zwar gab es im Anschluss keinen unmittelbaren Schub für die „Yes“-Seite. Es lag wohl daran, dass die Schotten nach dem Brexit-Erdbeben wenig Lust auf weitere Verwerfungen hatten.

Der Brexit vertiefte die Kluft

Aber, wie der Meinungsforscher John Curtice von der University of Strathclyde in Glasgow kürzlich schrieb, änderte sich das in den folgenden Jahren sukzessive: Immer mehr schottische EU-Befürworter begannen mit der Abspaltung von England zu liebäugeln. Dieser Trend beschleunigte sich nach dem vollzogenen harten Brexit: 67 Prozent der Remain-Befürworter würden jetzt die Unabhängigkeit wählen.

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Dazu kommt die Pandemie: Während Boris Johnson Covid zu verharmlosen suchte und die Krise halbherzig und etwas nonchalant anging, trat Nicola Sturgeon mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit und Kompetenz auf. Erhebungen bestätigen, dass die Krisenbewältigung der Regierung in Edinburgh der SNP einen deutlichen Aufschwung gegeben hat.

Schottland würde zunächst das Pfund als Währung behalten wollen

Aber stets ist die SNP unter Druck, eine detailliertere Blaupause für ein unabhängiges Land vorzulegen, insbesondere für die Wirtschaft. In einem Versuch, Bedenken zu zerstreuen, publizierte die schottische Regierung Mitte Oktober ein Arbeitspapier, das Antworten geben soll.

Demnach würde Schottland zunächst das Pfund beibehalten, danach aber seine eigene Währung einführen. Auch bestätigt die SNP, dass sie ein unabhängiges Schottland zurück in die EU führen würde – was allerdings die Frage aufwirft, wie eine harte Grenze zu England gehandhabt würde.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.