Washington. Mit einer feurigen Rede hat US-Präsident Biden den Zustand seines Landes skizziert - und klar gemacht, was künftig anders laufen soll.

Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ein Mal im Jahr vor dem Kongress in Washington und einem gigantischen TV-Publikum (zuletzt waren es 40 Millionen) Rechenschaft über die „Lage der Nation” ablegt, stehen zwei Menschen unter Sonder-Beobachtung.

Vizepräsidentin Kamala Harris - in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des Senats - und der neue „Speaker of the House”, der Republikaner Kevin McCarthy. Sie mussten am Dienstagabend traditionell hinter Joe Biden Platz nehmen und staatstragend gute Miene zu dessen rhetorischem Parforce-Ritt machen.

Für Harris qua Amt kein Problem. McCarthy hingegen, Bidens Gegenspieler, wollte eigentlich konsequent mürrische Nicht-Begeisterung ausstrahlen. Ging aber nicht.

USA: Biden begann seine Rede zur Lage der Nation mit versöhnlichen Tönen

Patriotismus und einige überparteilich konsensfähige Aspekte in der gut 70 Minuten und 7300 Worte langen Rede des ausgesprochen kämpferischen und energiegeladenen Biden zwangen McCarthy mehr als einmal zu einer „standing ovation”.

Das lag zunächst daran, dass der 80-jährige Biden mit versöhnlichen Tönen begann. „Wenn wir im letzten Kongress zusammenarbeiten konnten, gibt es keinen Grund, warum wir in diesem neuen Kongress nicht zusammenarbeiten können”, sagte Biden und forderte Pragmatismus ein. „Die Menschen senden uns eine klare Botschaft. Zu kämpfen um des Kämpfens willen, Macht um der Macht willen, Konflikt um des Konflikts willen - das führt uns nirgendwo hin.” Lesen Sie hier: Minus 78 Grad: Arktische Rekordkälte sucht die USA heim

Sein Ziel sei unverändert, „die Seele der Nation wiederherzustellen, das Rückgrat Amerikas - die Mittelschicht - wieder aufzubauen und das Land zu vereinen.” Sein Appell an die Konservativen: "Lasst uns den Job gemeinsam zu Ende führen."

Joe Biden: Standing Ovations für seine Worte zum Angriff auf das Kapitol

Ausdrücklich verzichtete Biden darauf, die politischen Gegner, die ihn demnächst in Untersuchungs-Ausschüssen wegen allerlei Fehlleistungen ins Visier nehmen wollen, mit der extremen Ideologie seines Vorgängers Donald Trump zu assoziieren.

Dessen dunkelste Stunde - der tödliche, von ihm inszenierte Angriff aufs Kapitol am 6. Januar 2021 - handelte Biden so ab: „Vor zwei Jahren stand unsere Demokratie ihrer größten Bedrohung seit dem Bürgerkrieg gegenüber. Heute ist unsere Demokratie trotz blauer Flecken ungebeugt und ungebrochen.” Etliche konservative Abgeordnete erhoben sich teils verblüfft von ihren Sitzen und spendeten lautstark Beifall. Was rechtsextreme republikanische Parlamentarier um die streitbare Marjorie Taylor Greene nicht davon abhielt, Biden später als Lügner zu bezichtigen und in kurze, heftige Rede-Duelle zu verwickeln. Biden genoss das, die Pfeile der Angreifer gingen ins Leere.

Den Löwenanteil seiner Redezeit verlegte Biden auf die Ökonomie. Zwölf Millionen Arbeitsplätze seien seit seinem Amtsantritt geschaffen worden, zehn Millionen Amerikaner hätten ein Geschäft aufgemacht, sagte er. Eine „sehr gute” Bilanz, aber noch lange nicht gut genug.

USA: So sieht Bidens Plan für die amerikanische Wirtschaft aus

Durch die großzügigen Investitions-Programme in eine neue, klimaschutzfördernde Infrastruktur und durch die Ansiedlung neuer Betriebe in Schlüssel-Industrien (Halbleiter etc.) entstünden in den kommenden Jahren Zehntausende Jobs, die auch ohne College-Abschluss gute Löhne verhießen. Bidens Philosophie: „Mein wirtschaftlicher Plan dreht sich darum, in Orte und Menschen zu investieren, die vergessen wurden.”

Wie ernst es Biden mit seiner Version der Trumpschen "America First"-Politik ist, zeigt diese neue Facette: Die neuen, modernen, ökologischen Straßen, Brücken und Stromleitungen sollen vom Bauholz über den Zement bis zu Kupfer- und Glasfaserbestandteilen mit ausschließlich in Amerika produzierten Materialien hergestellt werden. „Die Lieferkette beginnt in Amerika”, rief Biden unter dem Beifall beider Parteien. In Europa dagegen wird das Wehklagen über den Protektionismus in den USA demnächst noch lauter. Lesen Sie dazu: Habeck zu Besuch in den USA: Droht ein Handelskrieg?

Wissend um die gesplittete Machtverteilung von Demokraten und Republikanern in den zwei Kammern des Kongresses, trug Biden eine umfangreiche Wunschliste vor, bei der er Mitarbeit des Parlaments erwartet: So soll für Minderjährige der Datenschutz gegenüber den Tech-Konzernen gestärkt werden. Auch interessant: Spionage-Provokation: Droht Krieg zwischen USA und China?

Die Pharmaindustrie soll etwa bei der Herstellung von Insulin eine Preis-Obergrenze aufgebrummt bekommen. Große Unternehmen, die wie etwa gerade in der Öl-Industrie dreistellige Milliardengewinnen gemacht haben, will Biden steuerlich deutlicher zur Kasse bitten. Dazu kommen etliche Reformen im Polizei-, Bildungs- und Arbeitsrecht. Biden fordert abermals ein Verbot von halbautomatischen Sturmgewehren, wie sie bei Massenmorden regelmäßig zum Einsatz kommen. Lesen Sie hier: USA: Politiker fordern Organspende gegen kürzere Haft

Kurz erklärt: Zwischenwahlen in den USA

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