Brüssel/Berlin. Russland zieht nach der Aufkündigung des INF-Vertrags durch die USA nach. Außerdem gibt Wladimir Putin grünes Licht für neue Raketen.

Jetzt wird es ernst: Auch Russland will den INF-Vertrag zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenwaffen aussetzen. Das kündigte der russische Präsident Wladimir Putin am Samstag einer Mitteilung des Kremls zufolge an. Er reagiert damit auf die Aufkündigung des Abkommens durch die USA.

Seine Außen- und Verteidigungsminister wies Putin an, keine Abrüstungsgespräche mit den USA anzustoßen. Stattdessen erklärte er, er stimme dem Vorschlag des Verteidigungsministerium zu, mit der Entwicklung neuer Raketen zu beginnen, darunter solche, die mit Überschallgeschwindigkeit fliegen.

Abrüstungsvertrag aufgekündigt – Alarmstimmung in Europa

Der Abrüstungsvertrag zwischen den USA und Russland gilt als Eckpfeiler der Sicherheit in Europa. US-Präsident Donald Trump wirft Russland vor, mit der Entwicklung und Stationierung einer neuen atomaren Mittelstreckenrakete den über 30 Jahre alten Vertrag gebrochen zu haben – ein 60-Tage-Ultimatum zum Einlenken habe Moskau verstreichen lassen.

In Berlin und anderen Hauptstädten Europas herrscht Alarmstimmung: Droht ein atomares Wettrüsten auf dem Kontinent? Wie gefährdet ist Deutschland? Viele fragen sich aber auch: Was ist wirklich dran an den Vorwürfen?

Warum kündigen die USA den Vertrag?

Die USA werfen Russland schon seit 2014 vor, den INF-Vertrag zu verletzen, der landgestützte, atomare Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometer verbietet. Die Russen hätten landgestützte Marschflugkörper (Nato-Code ssc-8), die bis zu 2400 Kilometer weit fliegen könnten, getestet und inzwischen auch stationiert.

Die Tests selbst wären nach dem Vertrag nicht verboten, die Stationierung schon. Trump und seine Militärs verlangen die nachprüfbare Zerstörung des russischen Raketensystems.

Die USA können auf den Vertrag verzichten, ohne dass ihre eigene Sicherheit gefährdet wäre. Betroffen ist dagegen Europa: Der von der damaligen Sowjetunion und den USA vereinbarte INF-Vertrag beendete 1987 den Rüstungswettlauf auf dem Kontinent.

INF steht übersetzt für Intermediate Range Nuclear Forces: Alle landgestützten Mittelstreckenraketen wurden zerstört, auch die in Deutschland stationierten Pershing-II. Der INF-Vertrag gilt deshalb als „Herzstück der europäischen Sicherheit“.

Bedrohen Putins neue Atomraketen auch Deutschland?

Direkt bislang nicht. Das neue Raketensystem hat das russische Militär noch nicht in seine Feldverbände eingeführt. Nach amerikanischen Geheimdiensterkenntnissen sind die umstrittenen Waffen in zwei Raketenverbänden – in Jekatarinenburg östlich des Ural und auf einer Testbasis am Kaspischen Meer – stationiert.

Wenn die Raketen tatsächlich 2500 Kilometer weit fliegen können – was Russland bestreitet – würden sie von dort aus allenfalls das Baltikum, das östliche Polen oder Rumänien erreichen, aber nicht Berlin, Hamburg oder das Ruhrgebiet.

Aber: Die landgestützten Marschflugkörper sind auf mobilen Startrampen montiert, könnten also rasch in den Westen Russlands verlegt werden und würden dann praktisch alle europäischen Hauptstädte treffen können.

Solche Systeme stellten künftig ein besonderes Problem dar, erklärt Verteidigungsexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik: „Sie sind oft mobil, schnell verlegbar und werden mittlerweile so gut getarnt, dass sie die militärischen Planer vor erhebliche Probleme stellen.“

Die Mittelstreckenraketen hätten eine geringe Flugzeit von wenigen Minuten bis zu Zielen in Europa. „Damit steigt die Gefahr, dass durch die Kombination von Entscheidungszwang, Schätzungen und Missverständnissen ein Nuklearkrieg ausgelöst werden kann“, warnt Mölling.

Und: Jeder Staat in Reichweite müsse ständig mit einem Überraschungsangriff rechnen, ohne sicher zu sein, ob er seine eigenen Waffen noch einsetzen könne. „Das Gleichgewicht der Abschreckung ist in Gefahr.“

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagt: „Letztlich geht es um Europa, weil diese Marschflugkörper nur europäische Städte erreichen können. Sie erhöhen damit das Risiko eines begrenzten Atomkrieges in Europa.“

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht ein erhöhtes Risiko für einen „begrenzten Atomkrieg in Europa.“
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht ein erhöhtes Risiko für einen „begrenzten Atomkrieg in Europa.“ © dpa | Vadim Ghirda

Was sagt Russland zu dem Vorwurf?

Russlands Präsident Wladimir Putin behauptet, die Raketen flögen weniger als 500 Kilometer weit, womit sie nicht gegen den INF-Vertrag verstoßen würden.

Die russische Armee hat vor wenigen Tagen ausländischen Militär-Abgesandten und Journalisten erstmals einige Details präsentiert: Demnach kann die Rakete vom Typ 9M729 maximal 480 Kilometer fliegen.

Doch die Rakete selbst gab es nicht zu sehen. Westliche Militärexperten halten die russischen Erklärungen für wenig überzeugend. Die US-Regierung spricht von „Desinformation“. Die USA wollen sich ohnehin nicht mit bloßem Augenschein sowieso zufrieden geben: „Eine Besichtigung bringt keinen Aufschluss darüber, wie weit die Rakete fliegen kann“, sagt ein US-Militärdiplomat.

Ein russischer Offizier geht an dem neuen Marschflugkörper vom Typ 9M729 entlang, im Hintergrund befindet sich die Startvorrichtung.
Ein russischer Offizier geht an dem neuen Marschflugkörper vom Typ 9M729 entlang, im Hintergrund befindet sich die Startvorrichtung. © dpa | Pavel Golovkin

Notwendig seien Flugtests ohne russische Kontrolle. Doch die verweigert Russland. Moskau erhebt stattdessen Gegenvorwürfe an die USA: Sie verletzten den Vertrag etwa mit dem Einsatz von Langstreckendrohnen, vor allem aber mit der Stationierung von Abwehrraketensystemen in Rumänien und demnächst Polen - die könnten mit geringen technischen Änderungen auch offensiv für Atom-Mittelstreckenraketen genutzt werden.

Washington bestreitet, dass das Aegis-Ashore-Abwehrsystem umgerüstet werden kann; ob diese Angaben belastbar sind, halten aber auch westliche Experten zumindest für diskussionswürdig. Die Drohnen sind aus Washingtoner Sicht nicht vom INF-Vertrag erfasst, was wohl auch zutrifft.

Wer hat recht: Trump oder Putin?

Letzte Gewissheit hat die Öffentlichkeit nicht. Die staatliche Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin kommt in einer Analyse, die unserer Redaktion vorliegt, zu dem Schluss: „Sowohl die US-Vorwürfe an Russland als auch die Gegenvorwürfe aus Moskau lassen sich ohne Kenntnis und Zugang zu der Geheimhaltung unterliegenden Informationen schwer verifizieren oder falsifizieren. Dies ist nur den Vertragspartnern selbst möglich.“

Die USA haben den Nato-Partnern intern aber offenbar Satellitenbilder und anderes aussagekräftiges Geheimdienstmaterial präsentiert, zudem haben angeblich die Niederlande eigene Erkenntnisse – die Nato-Staaten sind nach längerem Zögern deshalb überzeugt, dass die Vorwürfe zutreffen.

Die Indizien seien erdrückend, sagen Nato-Diplomaten in Brüssel. Russland habe auch deshalb ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil es die Existenz eines neuen Raketensystems längere Zeit geleugnet hat. Außenminister Heiko Maas (SPD) zeigt sich sicher: „Der Vertrag wird von russischer Seite verletzt.“

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) ist sich sicher, dass Russland den Abrüstungsvertrag verletzt habe.
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) ist sich sicher, dass Russland den Abrüstungsvertrag verletzt habe. © dpa | Gregor Fischer

Experten halten eine Verständigung nach gegenseitigen Vor-Ort-Inspektionen theoretisch für möglich: „Es sind noch nicht alle Optionen ausgeschöpft“, heißt es in einer aktuellen Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die die Bundesregierung berät.

Es sei nicht hinreichend geklärt, ob es sich bei den wechselseitigen Vorwürfen auch um Fehleinschätzungen handele. „Bei den russischen Vorwürfen an die USA geht es um Fragen der Vertragsinterpretation, die Sachverhalte sind unstrittig“, heißt es in der Studie. „Die USA unterstellen Russland heimlichen Vertragsbruch. Dessen faktische Grundlage ist indes schwer einzuschätzen, denn die USA teilen die Quellen ihrer Erkenntnisse nur selektiv mit.“

Aber bislang gibt es keine Anzeichen für eine Verständigung. Der Wert des INF-Vertrags schwindet für beide Seiten, weil er nur landgestützte Marschflugkörper erfasst, während sich die Atommächte zunehmend auf see- und luftgestützte Waffen verlassen.

Und zugleich bindet der Vertrag nur Moskau und Washington, China dagegen stellt munter Mittelstreckenraketen auf. Viel spricht deshalb dafür, dass sowohl Russland als auch die USA die INF-„Altlast“ loswerden wollen, um sich für ein neues globales Kräftemessen vorzubereiten.

Droht jetzt ein neues Wettrüsten?

Ja, das ist zu befürchten. „Einem regionalen nuklearen Rüstungswettlauf in Europa und Ostasien stünden keine rechtlichen Beschränkungen entgegen“, warnt die SWP-Studie. Russland hat zwar noch 6 Monate Zeit, um den Vorwurf des Vertragsbruchs auszuräumen.

Endgültig gescheitert wäre der Vertrag dann im August. Russland hätte danach einen zeitlichen Vorsprung, seine Mittelstreckenraketen offen zu stationieren. „Die Kündigung des INF-Vertrags würde es Russland erlauben, noch ungehemmter nuklearfähige Mittelstreckenraketen aufzubauen“, erklärt Verteidigungsexperte Mölling.

Verteidigungsexperte
Verteidigungsexperte © imago stock&people | imago stock&people

Dass sich die Waffen vorrangig gegen europäische Ziele richten, wäre damit nicht gesagt: Einiges spricht dafür, dass sich Moskau auch gegen die atomare Aufrüstung Chinas und Indiens wappnen will. Die USA müssen neue landgestützte Systeme erst noch entwickeln, was Jahre dauern dürfte; entsprechende Pläne gibt es aber bereits. Und Washington hat es jetzt offenbar eilig, die USA fühlen sich ab sofort nicht mehr an den Vertrag gebunden.

Ohnehin bauen die USA ihr Arsenal an seegestützten Mittelstreckenraketen aus. Und ähnlich wie Russlands Präsident Putin hat auch US-Präsident Trump eine Modernisierung des Atomwaffen-Arsenale längst angekündigt.

Kommen neue Atomraketen nach Deutschland?

Eine neue Nachrüstungsdebatte dürfte bevorstehen. Wahrscheinlich endet sie aber nicht mit Stationierung von Atomraketen in Deutschland. Wenn die USA in Europa aufrüsten wollten, bräuchten sie für die Raketenstationierung die Zustimmung des jeweiligen Landes. Deutschland und andere Nato-Länder sehen einen solchen Schritt schon jetzt sehr kritisch.

Aber die Bedrohungsanalyse ist klar: Moskau könne die Fähigkeit ausbauen, einen konventionellen Angriff etwa auf das Baltikum durch einen regional begrenzten Atomwaffeneinsatz mit Mittelstreckenraketen abzusichern, heißt es in Nato-Kreisen.

Die Frage sei dann, ob die Drohung mit amerikanischen Langstreckenwaffen glaubwürdig sei – oder ob Moskau kalkuliere, dass sich die USA am Ende heraushalten. Geprüft werden in der Nato drei Varianten: Zum einen könnten amerikanische Raketenabwehrsysteme in Europa modernisiert und ihre Ziele auf die Abwehr von russischen Raketen eingerichtet werden – bislang sollen sie gegen Angriffe aus dem Nahen Osten schützen.

Diese Umrüstung würde Jahre dauern und Milliarden kosten. Ob dies als Abschreckung genügte, ist unklar. Eine andere Variante sieht die Aufrüstung mit landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa vor, womöglich ergänzt durch see- und luftgestützte Systeme. Für Nato-Strategen ein Problem – denn es droht eine Zerreißprobe zwischen stationierungswilligen Ländern wie Polen einerseits, ablehnenden Ländern wie Deutschland andererseits.

Überlegt wird in der Nato auch die Verstärkung konventioneller Truppen – die rotierende Präsenz von Nato-Truppen in Osteuropa würde erhöht.

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) kündigte an, das Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle wieder auf die internationale Tagesordnung zu setzen. Ohne das Abkommen werde es weniger Sicherheit geben. Im März will Maas deshalb zu einer internationalen Abrüstungskonferenz nach Berlin einladen.