Berlin. Duogynon hatten Ärzte über viele Jahre für Schwangerschaftstests eingesetzt. Nun fordern Abgeordnete Aufarbeitung von der Kanzlerin.

Der Name klingt unscheinbar: Duogynon. Ein Hormonpräparat, das Frauenärzte über viele Jahre bei ihren Patientinnen als hormonellen Schwangerschaftstest eingesetzt haben. Bis 1981, als das Mittel in Deutschland endgültig vom Markt genommen wurde, hatten es Millionen Frauen geschluckt.

Mit dem Namen Duogynon verbindet sich jedoch seit Langem ein schwerwiegender Vorwurf: Das Medikament steht im Verdacht, Missbildungen an den Embryonen ausgelöst zu haben. Vollständig aufgeklärt ist der Vorwurf bis heute nicht. Jetzt soll die Bundeskanzlerin persönlich dafür sorgen.

Abgeordnete aus fünf Parteien vermuten Azrneimittelskandal

26 Abgeordnete von CDU und CSU, SPD, Grünen und Linke fordern in einem gemeinsamen Brief an Angela Merkel die Kanzlerin auf, sich für eine „umfassende Aufarbeitung“ des „mutmaßlichen Arzneimittelskandals“ einzusetzen.

Zu den Unterzeichnern gehören SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach, die gesundheitspolitischen Sprecher von Grünen und Linken, Maria Klein-Schmeink und Harald Weinberg, sowie der menschenrechtspolitische Sprecher der CDU/CSU, Michael Brand.

Entschädigung von Contergan-Opfern als Vorbild

In dem Brief, der unserer Redaktion vorliegt, heißt es: Aufgrund der Verjährungsfristen sei eine juristische Aufarbeitung in Deutschland praktisch nicht mehr möglich. „Deshalb und aufgrund der besonderen Verantwortung der Bundesrepublik, die sich aus der Rolle des BGA (gemeint ist das Bundesgesundheitsamt, Anm. der Red.) im Fall Duogynon ergibt, ist die Aufarbeitung eine politische Aufgabe. Dieser Aufgabe sollte sich die Bundesregierung dringend annehmen.“

Zu prüfen sei dabei auch eine soziale Entschädigung nach dem Vorbild der Entschädigung von Contergan-Opfern. Beim Contergan-Skandal ging es um das millionenfach verkaufte Schlaf- und Beruhigungsmittel für Schwangere, das zu Totgeburten und Fehlbildungen bei Neugeborenen geführt hatte.

Geschätzt etwa 1000 lebende Duogynon-Opfer

Wie groß der mutmaßliche Schaden im Fall des Hormonmittels Duogynon ist, kann niemand sagen: „Die genauen Zahlen sind nicht bekannt. Wir gehen aktuell noch von etwa 1000 lebenden Duogynon-Opfern aus“, sagte Stephan Pilsinger unserer Redaktion.

Der CSU-Politiker und Arzt gehört zu den Initiatoren des Briefes an die Kanzlerin. Seit Jahren kämpfen mutmaßliche Duogynon-Opfer um Entschädigung, mit öffentlichen Protesten, aber auch auf juristischem Weg. Bislang vergeblich.

Gab es illegale Absprachen mit Hersteller Schering?

Was aber genau ist damals passiert – und welche Rolle spielte das Bundesgesundheitsamt, der Vorgänger des heutigen Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, beim Umgang mit dem frühzeitig umstrittenen Hormonpräparat Duogynon? Gab es illegale Absprachen mit dem damaligen Hersteller, der Schering AG, deren Rechtsnachfolger die heutige Bayer AG ist?

Die Unterzeichner hegen einen Verdacht: „Es gibt im Fall Duogynon viele offene Fragen und diverse Belege für Fehlverhalten des Herstellers und von Mitarbeitern des Bundesgesundheitsamtes (BGA), der damals für die Arzneimittelsicherheit zuständigen Behörde. Insbesondere geht es hier um die Verletzung ihrer Neutralitätspflicht.“

Offenbar keine angemessene Reaktion auf Missbildungsrisiko

Schering-Unterlagen legten nahe, dass auf ernstzunehmende Hinweise auf ein bestehendes Missbildungsrisiko weder vom Hersteller noch von Behördenseite angemessen reagiert worden sei.

„Im Gegenteil: Es gibt deutliche Hinweise auf eine verdeckte Kooperation des Herstellers und des BGA mit dem erklärten Ziel, eine Marktrücknahme von Duogynon zu verhindern oder zu verschleppen“, schreiben die Abgeordneten.

Duogynon im Ausland deutlich früher aus Verkehr gezogen

Kritik üben die Unterzeichner auch am Bundesgesundheitsministerium, das eine eigene Aufarbeitung des Falls in Deutschland derzeit ablehne. Der Grund: Bislang fehlt der sichere wissenschaftliche Nachweis, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Duogynon-Einnahme und den Fehlbildungen besteht.

Die Unterzeichner des Briefs argumentieren stattdessen mit statistischen Zusammenhängen: So habe etwa die britische Arzneimittelaufsichtsbehörde Mitte der 1970er-Jahre von einem relativen Missbildungsrisiko gewarnt. Das Mittel sei im Ausland aufgrund des angenommenen Missbildungsrisikos deutlich früher als in der Bundesrepublik vom Markt genommen worden.

Neue Studie weist auf erhöhtes Risiko bei Duogynon-Gabe hin

Ein Zusammenhang zwischen Duogynon und Missbildungen werde zudem durch eine aktuelle Studie der Universität Oxford gestützt. Jeffrey Aronson, Co-Autor der Studie, sagte dem Deutschlandfunk: „Wir haben herausgefunden, dass das Risiko einer Fehlbildung beim Baby, dessen Mutter den Hormon-Schwangerschaftstest gemacht hatte, 40 Prozent höher war als das Risiko bei einer Frau, die den Test nicht gemacht hatte.“

Anders als in Deutschland wird die Aufklärung im Fall Duogynon in Großbritannien derzeit im Auftrag von Premierministerin Theresa May erneut von einer Untersuchungskommission vorangetrieben. Dasselbe wünschen sich die 26 Abgeordneten nun auch von der deutschen Regierungschefin.

• Duogynon ist nicht das einzige Mittel, das der Bayer AG derzeit Sorgen bereitet. Im Glyphosat-Prozess entschied ein Gericht vor Kurzem, dass Bayer einem Krebskranken 71 Millionen Euro zahlen muss.

(Julia Emmrich)