Berlin. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz kennt sich aus mit weltpolitischen Krisen. Nun fordert er mehr Geld für die Bundeswehr.

Sein erster Arbeitstag als deutscher Botschafter in Washington war der 11. September 2001. Wie kaum ein anderer Diplomat kennt sich Wolfgang Ischinger mit weltpolitischen Krisen aus. Der heutige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, die kommenden Freitag wieder beginnt, spricht im Interview über die Gefahr der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa, die hervorgehobene Rolle Frankreichs und das Verhältnis zu US-Präsident ­Donald Trump.

Die USA und Russland haben den INF-Vertrag über das Verbot von Mittelstreckenraketen gekündigt.Wie gefährlich ist das für Europa?

Ischinger : Sehr beunruhigend. Es ist ein weiterer Schritt, das über Jahrzehnte aufgebaute Netzwerk der Zusammenarbeit und des Vertrauens zwischen West und Ost mit der Abrissbirne zu zerstören. Wenn der INF-Vertrag auf diese Weise endet, ist zu befürchten, dass auch der sogenannte Start-Prozess über die Begrenzung von atomaren Langstreckenraketen ins Stocken gerät. Diese Verhandlungen zwischen den USA und Russland müssten spätestens 2021 fortgesetzt werden. Sonst droht das gesamte Gebäude der nuklearen Rüstungskontrolle zusammenzubrechen.

Steht Deutschland vor einem neuen Nachrüstungsstreit wie in den 80er- Jahren?

Ischinger : Zunächst sind die beiden INF-Vertragspartner Amerika und Russland am Zug. Es wäre natürlich wünschenswert, wenn Moskau und Washington auf dem europäischen Kontinent keine neuen Mittelstreckenwaffen stationieren würden. Falls die russische Seite jedoch Mittelstreckenwaffen aufstellen sollte, die europäische Ziele erreichen können, könnte dies auf gefährliche Weise zu Abkoppelungseffekten zwischen den USA und Europa führen.

Abschreckung auf Französisch: Die U-Boot-gestützte Interkontinentalrakete M51 – hier bei einem Test – kann nukleare Sprengköpfe tragen.
Abschreckung auf Französisch: Die U-Boot-gestützte Interkontinentalrakete M51 – hier bei einem Test – kann nukleare Sprengköpfe tragen. © missilethreat.csis.org | missilethreat.csis.org

Was meinen Sie damit?

Ischinger : Moskau könnte dann mit seinen Kräften Westeuropa unter Druck setzen. Die glaubwürdige Abschreckungsdrohung der Nato könnte durch eine Stationierung von russischen Mittelstreckenwaffen infrage gestellt werden, wenn die Nato darauf nur mit dem Einsatz US-strategischer Nuklearwaffensysteme reagieren könnte. Wäre das glaubwürdig?

Russland hat bereits angekündigt, neue Raketen mit größerer Reichweite zu entwickeln. Heißt das nicht, dass Deutschland bereit sein muss, wieder Mittelstreckenwaffen zu stationieren?

Ischinger : Wenn Russland neue Systeme entwickelt, bedeutet das noch nicht, dass sie auch im europäischen Raum stationiert werden. Sollte dies aber doch passieren, muss der Westen im Jahr 2019 nicht zwangsläufig so reagieren wie in den 80er-Jahren. Damals ­installierten die Amerikaner landgestützte Pershing-II-Raketen und Cruise-Missiles als Antwort auf die sowje­tischen SS-20-Mittelstreckenraketen. Heute gibt es technologische Alternativen verschiedenster Art. Es muss also nicht unbedingt zur Aufstellung von neuen landgestützten Atomwaffen in Deutschland kommen. Abgesehen von see- oder luftgestützten nuklearen ­Mittelstreckenraketen gibt es mittlerweile außerordentlich zielgenaue konventionelle Waffen.

Wie sollte Europa auf die russischen Drohgebärden reagieren?

Ischinger : Die Westeuropäer sollten vor allem ihre konventionelle Verteidigungsfähigkeit nachbessern. Deutschland hat hier einen besonders krassen Nachholbedarf.

Sie kritisieren die Bundesregierung, die bis 2024 nur 1,5 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung für die Verteidigung ausgeben will?

Ischinger : Aus Sicht der Nato ist das ungenügend. Die Allianz hat sich – einschließlich Deutschland – 2014 darauf verpflichtet, bis zum Jahr 2024 anzustreben, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung zu reservieren. 1,5 Prozent sind aber nicht zwei Prozent. Es kommt jetzt sehr darauf an, dass wir uns bei der Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit nicht in nationaler Kleinstaaterei verzetteln. Wir müssen zum Beispiel die Rüstungsbeschaffung europäischer organisieren.

In Zeiten von Trump, Putin und Erdogan ist die Welt unsicherer geworden: Muss sich die EU neu definieren?

Ischinger : Eindeutig ja. Die EU hat jahrzehntelang von dem sicherheitspolitischen Schutzschirm der USA profitiert. Das ist heute anscheinend nicht mehr so selbstverständlich. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dies in ihrer berühmten Rede in München-Trudering im Mai 2017 auf den Punkt gebracht. Deswegen ist es überfällig, dass sich die EU zu einer Verteidigungsunion wandelt – ohne ihre bisherigen Ziele im Bereich der Wirtschafts-, Sozial- oder Handelspolitik aufzugeben. Die Gemeinschaft muss die Bürger, das europäische Territorium und die Außengrenzen zunehmend selbst schützen können. Die Menschen wollen, dass die EU äußere und innere Sicherheit bietet und grenzüberschreitende Kriminalität eindämmt. Das ist die neue, zusätzliche Aufgabe der Europäischen Union: Sicherheit zu schaffen!

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron macht sich für eine „echte europäische ­Armee“ stark. Wie realistisch ist das?

Ischinger : Die Idee ist nicht neu. Sie wird in Deutschland von der einen oder anderen Partei verfochten. Dennoch ist es nicht hilfreich, den Begriff einer europäischen Armee jetzt in die Debatte zu werfen. Das gäbe in Washington jenen Auftrieb, die darüber mosern, dass die Europäer ohnehin zu wenig für ihre Verteidigung bezahlen. Viel klüger wäre es, die EU außenpolitisch handlungsfähig zu machen. Die Gemeinschaft muss sich vom Prinzip der Einstimmigkeit verabschieden. Außenpolitische Fragen sollten künftig mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden. Europa muss mit einer Stimme sprechen!

Welche Rolle spielt Frankreich für Europas Sicherheit? Wie wichtig ist das französische Atomarsenal?

Ischinger : Die Bedeutung kann nicht überschätzt werden. Nach dem EU-Ausstieg der Briten ist Frankreich die einzige europä­ische Nuklearmacht. Darüber hinaus verfügt das Land als einziges EU-Mitglied über einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Wenn es das damit verbundene Vetorecht im Sinne europä­ischer Interessen geltend machen kann, bedeutet das, dass die Gemeinschaft indirekt einen Platz am Tisch der Großen hat. Insofern spielt Frankreich in Zukunft sicherheits- und verteidigungspolitisch eine besonders wichtige Rolle in der EU.

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    Wäre ein deutsch-französisches Gegengeschäft denkbar: Die Deutschen billigen den Franzosen mehr Flexibilität beim Haushalt zu, dafür sind sie am französischen Atomwaffenarsenal beteiligt?

    Ischinger : Ich glaube, eine öffentliche Diskussion über dieses Thema bringt derzeit nicht viel. Aber mittelfristig ist die Frage nach einer Europäisierung des französischen Nuklearpotenzials ein durchaus richtiger Gedanke. Es geht darum, ob und wie Frankreich imstande sein könnte, seine Nuklearkapazität strategisch zum Vorteil der gesamten EU zur Verfügung zu stellen. Konkret: Die atomaren Einsatzoptionen Frankreichs sollten nicht nur das eigene Territorium, sondern auch das Territorium der EU-Partner mit abdecken. Im Gegenzug müsste geklärt werden, welche Beiträge die europä­ischen Partner im Sinne einer fairen Lastenteilung dafür erbringen müssten. Aber: Der mögliche Einsatz von Nuklearwaffen kann am Ende nicht von einem EU-Komitee beschlossen werden. Die Entscheidung würde beim französischen Präsidenten bleiben. Das müssten wir akzeptieren!

    Mit Lastenteilung meinen Sie: Die EU-Partner müssten sich an der Finanzierung von Frankreichs Atomarsenal beteiligen?

    Ischinger : Wenn das kostspielige französische Nuklearpotenzial erweitert werden müsste, kann man nicht erwarten, dass Frankreich das aus dem eigenen Haushalt bezahlt. Dafür müssten die anderen mit zu schützenden EU-Partner entsprechende Beiträge erbringen.

    Sollte sich Europa im Verteidigungsbereich von den Vereinigten Staaten emanzipieren und radikal aufrüsten?

    Ischinger : Es wäre schlimm, wenn in Washington das Signal ankommen würde: Wir brauchen die Vereinigten Staaten nicht mehr, wir machen uns selbstständig. Es gibt ja Sprücheklopfereien über die strategische Autonomie Europas. Das halte ich für falsch. Unsere Abhängigkeit von den militärischen Fähigkeiten der USA ist auf kurze, mittlere und längere Sicht unabdingbar für Europas und Deutschlands Sicherheit. Wir sind blind, taub und unfähig ohne den amerikanischen Partner. Wir müssen vielmehr den Nachweis bringen, dass wir leistungsfähige Bündnisgenossen sind, mit denen man gemeinsam verteidigungspolitisch zusammenarbeiten kann.