Peking. Eine dritte Amtszeit für Chinas Herrscher Xi Jinping gilt als sicher. Doch hat der Herrscher den Zenit seiner Macht überschritten?

Nur einen Monat vor dem wichtigsten Moment in seiner politischen Laufbahn ist Xi Jinping spurlos verschwunden. Weder in den Fernsehnachrichten noch in den Parteizeitungen tauchte der 69-jährige chinesische Staatschef mehr auf. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Gerüchte kursieren: China-Experten spekulierten offen über einen Militärputsch, einige Aktivisten wähnten den Generalsekretär der Kommunistischen Partei gar im Gefängnis.

Kommentarlos tauchte der wohl mächtigste Mann der Welt nach elf Tagen Funkstille wieder auf. Mit Maske im Gesicht und seiner ikonischen, marineblauen Funktionsjacke weihte Xi Jinping eine Ausstellung im „Messepalast Beijing“ ein. Dabei mahnte er seine Bevölkerung, auf einen „neuen Sieg des Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften“ hinzuarbeiten.

Xi Jinping, Präsident von China, erhebt während seiner Rede beim Empfangsbankett des
Xi Jinping, Präsident von China, erhebt während seiner Rede beim Empfangsbankett des "Seidenstraßen"-Gipfels im Jahr 2019 in der Großen Halle des Volkes sein Glas. © dpa | Nicolas Asfouri

Chinesischer Staatschef: Was treibt Xi Jinping an?

Kurz vorm 20. Parteikongress in Peking gilt Xi Jinpings umstrittene wie gleichermaßen historische dritte Amtszeit als Formsache. In Windeseile hat der mächtigste Staatschef seit Mao Zedong sein Heimatland radikal umgestaltet und seine Macht gefestigt – stets getrieben von der historischen Mission, das Reich der Mitte zu alter Größe zurückführen. Um Xi zu verstehen, muss man tief in die Archive blicken. Etwa auf jenem Tag im Jahr 1966, als der damals pubertierende Xi im Innenhof der zentralen Parteischule Pekings eingesperrt wurde. Lesen Sie auch: China: Meine unfassbare Rückreise in die Null-Covid-Bastion

Ein paar unachtsame Worte gegen die damals beginnende Kulturrevolution reichten aus, um dem 13-Jährigen eine harte Lektion zu erteilen: Maos Rotgardisten hievten den Heranwachsenden auf eine Bühne, setzten ihm einen 30 Kilogramm schweren Eisenhut auf den Kopf und erniedrigten ihn mit einem öffentlichen Demütigungstribunal. Ein johlender Mob beschimpfte Xi als „Bastard“, „schwarzes Element“ und „Reaktionär“. Auch Xis Mutter musste unter Zwang bei den Hasstiraden mitmachen, während die Rotgardisten ihren Sohn auf der Bühne niederschlugen.

Xi Jinping: Seine Familie wurde vom System zerstört

Wie kann jemand, dessen gesamte Familie von einem unmenschlichen System derart zerstört wurde, später in seinem Leben dessen Spitze erklimmen? Hinweise dafür finden sich in seiner Biographie. 1953 wird Xi Jinping in der behüteten Welt des Pekinger Regierungsviertels Zhongnanhai geboren. Die Familie lebt in einer bewachten Wohnanlage, beschäftigt einen Chauffeur samt sowjetischem Importauto, hat ein Kindermädchen und einen Privatkoch.

Archivfotos zeigen Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping (2014) und den chinesische Staatsführer Mao Tsetung (1967).
Archivfotos zeigen Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping (2014) und den chinesische Staatsführer Mao Tsetung (1967). © dpa | art MaatANP Pool via epa; UPI

Xi ist das, was man in China einen „Prinzling“ nennt: Er gehört der „roten Aristokratie“ der zweiten Generation an. Sein Vater, Xi Zhongxun, war die rechte Hand Mao Zedongs. Doch zu Beginn der 60er Jahre steht der alternde Mao nach einer katastrophal fehlgeschlagenen Industrialisierungspolitik massiv unter Druck: Der „Große Sprung nach vorn“ endete in der wohl größten Hungersnot der modernen Menschheitsgeschichte.

Xis Vater wird in ein Arbeitslager gesteckt, die Schwester bringt sich um

Im Inneren des Pekinger Parteiapparat rumorte es, und der zunehmend paranoide Mao wähnte an jeder Ecke eine Verschwörung. 1962 wurde auch Xis Vater geschasst, sämtlicher Ämter enthoben und in ein Arbeitslager gesteckt. Die gesamte Familie wird von der Parteielite zum gesellschaftlichen Abschaum erklärt. Xis ältere Schwester konnte die Demütigung nicht ertragen: Sie nahm sich nach einhelliger Meinung von Historikern das Leben. Lesen Sie auch: Chinas Staatschef Xi Jinping stolpert und hält zu Putin

Während viele aus jener Generation mit der Partei brachen, ins Ausland emigrierten oder Zuflucht im kapitalistischen Hedonismus suchten, entschied sich Xi Jinping fürs genaue Gegenteil: Um nie mehr Opfer des Systems zu werden, nahm er die Denkweise der Täter an. Nach Maos Tod wurde Xi Jinpings Vater rehabilitiert. Mit dessen Starthilfe begann Xi Jinping seine Karriere als Privatsekretär bei einem hochrangigen Militäroffizier. Dank sauberer Weste und eiserner Arbeitsdisziplin durchlief er die Karriereleiter der KP im Schnelltempo.

Im chinesischen Fernsehen wird ein Auftritt von Staatschef Xi Jinping übertragen. WEERASEKARA
Im chinesischen Fernsehen wird ein Auftritt von Staatschef Xi Jinping übertragen. WEERASEKARA © AFP | Str

Mit brutaler Konsequenz räumt Xi auf

2012 wurde Xi Jinping vom Parteikomitee zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei gewählt. Mit brutaler Konsequenz räumte Xi Jinping die zutiefst korrupte Gesellschaft auf. Über 100.000 Regierungsbeamte wurden im Zuge seiner Anti-Korruptions-Kampagne hinter Gitter gesteckt, manche von ihnen zu Todesstrafen verurteilt. Beim einfachen Volk genoss Xi wegen seiner Maßnahmen schon früh große Beliebtheit. Lesen Sie auch: Verzweiflung, Hunger und Tod: Corona-Lockdown in Xinjiang

Der Jugend gefiel zunächst das neue, nationalistische Selbstbewusstsein, welches Xis Propagandaapparat initiierte. Doch der erstarkende Patriotismus fußte auch auf realen Errungenschaften: in der Wissenschaft, im Bereich der Zukunftstechnologien oder auch bei der zunächst raschen wirtschaftlichen Erholung nach der ersten Corona-Welle.

Hat Chinas Herrscher den Zenit seiner Macht überschritten?

Unter Xis Ägide ist die Volksrepublik China zu einem Land geworden, das nicht mehr im Wochentakt von Lebensmittelskandalen erschüttert wird, in dem die Luftqualität in den Großstädten merklich besser wird und in dem selbst die Behördengänge ungemein effizient ablaufen. Noch im letzten Sommer, als sich Xi Jinping beim 100-jährigen Parteijubiläum von den Massen am Tiananmen-Platz umjubeln ließ, schien es, als ob er felsenfest auf dem Diktatorenthron sitzen würde.

Parade in Peking.
Parade in Peking. © AFP | Greg Baker

Doch seither mehren sich die Zeichen, dass Xi den Zenit seiner Macht bereits überschritten haben könnte. Zu viele Fehlentscheidungen in zu kurzer Zeit hat Chinas Staatschef getroffen. Das dogmatische Festhalten an „Null Covid“ hat das Land in eine Sackgasse aus Lockdowns und wirtschaftlicher Rezession geführt.

Totale Kontrolle: Großstädter müssen nahezu täglich PCR-Tests machen

Doch vor allem hat die gesellschaftliche Überwachung ein dystopisches Ausmaß erreicht, welches selbst für patriotische Chinesen den Frust steigen lässt. In den großen Städten müssen die Bewohner nahezu täglich zum PCR-Massentest antreten, sich bei jedem Supermarktbesuch mit ihrem digitalen „Gesundheitscode“ registrieren und von ihrem Nachbarschaftskomitee zur willkürlichen Zwangsquarantäne verdonnern lassen. Lesen Sie auch: Chinas trügerische Komplizenschaft mit Wladimir Putin

Gleichzeitig, und das ist der große wirtschaftliche Fehler Xi Jinpings, hat Chinas Chefideologe mit seiner drastischen Regulierungswelle die erfolgreichsten Tech-Konzerne des Landes geschröpft und damit die Volkswirtschaft um ihren innovativen Wachstumsmotor gebracht. Unzählige Milliarden an Unternehmenswerten wurden dabei zerstört, Massenentlassungen provoziert und innerhalb der Vorstandsetagen ein Klima der Einschüchterung kreiert. Offensichtlich jedoch war Xi bereit, jenen Preis im Austausch für politische Kontrolle zu zahlen.

Xi Jinping und Russlands Staatschef Wladimir Putin im Mai 2022.
Xi Jinping und Russlands Staatschef Wladimir Putin im Mai 2022. © dpa | ALEXANDR DEMYANCHUK

An der Seite Russlands strebt Xi eine Neugestaltung der Weltordnung an

Nicht zuletzt dürfte sein unerwartet deutlicher Schulterschluss mit Russland dem Land schon bald auf die Füße fallen. Die Loyalität zwischen Xi Jinping und Wladimir Putin im Zuge des Ukraine-Kriegs hat der Weltöffentlichkeit so deutlich wie nie zuvor vor Augen geführt, dass der Staatschef der Volksrepublik China mit ihren 1,4 Milliarden Einwohnern eine Neugestaltung der Weltordnung anstrebt – und die Dominanz der westlichen Wertegemeinschaft herausfordert.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.