Al-Ruwais. Vor dem Spiel gegen Spanien werden im Lager der Deutschen Fußballer Erinnerungen an Russland wach. Ein Stimmungsreport aus Katar.

Julian Brandt überlegt. Lange. Der Dortmunder sucht im Kopf nach diesem einen Wort, das ihm auf der Zunge liegt, aber nicht einfallen will. „Die Spieler müssen jetzt…“, sagt der 26-Jährige – und schaut auf dem Podest im Medienzentrum des Al Shamal Sports Club hilfesuchend nach rechts, wo neben ihm Kai Havertz und Pressesprecherin Franziska Wülle sitzt. Wülle reagiert schnell und bietet an: „aktiv sein“, sagt sie. Oder: „vorangehen“. Brandt schüttelt den Kopf. „Nein, das ist das falsche Wort.“ Dann fällt es ihm ein: „Verantwortung“, ruft er erleichtert – und lacht über sich selbst. „Wir müssen jetzt Verantwortung übernehmen.“

Verantwortung also. Dieses verflixte Wort fiel nicht nur Julian Brandt am Freitagvormittag nicht ein. Die Verantwortung fehlte auch am Mittwoch im Khalifa-Stadion in der Schlussphase gegen Japan. 1:2 verloren die Deutschen ihr WM-Auftaktspiel gegen Japan, was die Mannschaft bereits vor dem zweiten Gruppenspiel am Sonntagabend gegen Spanien (20 Uhr/ZDF) extrem unter Druck setzt. Sollte Deutschland gegen den eigenen Angstgegner nicht gewinnen, ist ein Weiterkommen ziemlich unwahrscheinlich – und die Folgen unabsehbar.

Tief ins Bewusstsein der deutschen Fußball-Seele gefressen

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Von Kai Schiller und Sebastian Weßling

Natürlich braucht man keine große Fantasie, um bei diesem Szenario direkt an das WM-Trauma von vor vier Jahren zu denken. 2018 in Russland musste die DFB-Mannschaft nach zwei Niederlagen gegen Mexiko und Südkorea ebenfalls bereits nach der Vorrunde nach Hause reisen. Es war eine Schmach, die sich tief in das Bewusstsein der deutschen Fußball-Seele gefressen hat. Sechs große Turniere in Folge hatte die DFB-Auswahl mindestens das Halbfinale erreicht – und dann das.

Apocalypse Now. Nun wird auf den heimischen Weihnachtsmärkten diskutiert, ob man Deutschland überhaupt noch mit gutem Gewissen als Turniermannschaft betiteln darf. Von den letzten neun Spielen bei großen Turnieren hat das DFB-Team nur zwei gewinnen können. Noch deutlicher: Von den letzten 14 Partien gegen aktuelle WM-Teilnehmer konnte Deutschland sogar nur eins gewinnen. Eins. Punkt. Kein Wunder also, dass die schlechte Stimmungslage in der Heimat und die bösen 2018-Erinnerungen sich auch im Zulal Resort herumgesprochen haben. „Vier Jahre Fehler, drei Tage Zeit“, titelte „Spiegel Online“, „Bild“ berichtet von „Zoff in unserer Kabine“, von „einer gespaltenen Mannschaft“ und fragte: „Ist Hansi zu nett?“

Elf Profis aus 2018 noch dabei

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Der nette Bundestrainer Hansi Flick bat seine Spieler am Tag nach dem 1:2 gegen Japan zu einer XL-Mannschaftssitzung, um zunächst einmal die Fehler aus der Partie aufzuarbeiten. Es sei eine konfrontative Sitzung gewesen, berichten die, die dabei waren. Empfindungen, Fehler und die Gefühlslage seien offen angesprochen worden. Genauso wie die deutlichen Worte von Ilkay Gündogan nach der Japan-Niederlage. Der Mittelfeldmann hatte bemängelt, dass die Offensivspieler zu wenig den Ball gefordert hätten und die Defensivspieler die Tore zu einfach zuließen. Eine „konstruktive Kritik“ sei das gewesen, entgegnet Havertz, der umgehend Unterstützung seines Nebenmanns bekommt. Einen „sehr, sehr guter Austausch“, nennt Brandt die Sitzung. Zweimal „sehr“. Man habe die Sitzung mit dem Gefühl verlassen, den unbedingten Willen zu haben, das Spiel am Sonntag gegen Spanien zu gewinnen.

Diesen konnte man allerdings auch den Protagonisten nicht absprechen, die vor vier Jahren einen historischen Schiffbruch in Kasan erlitten. Von den 23 Spielern, die beim 0:2 gegen Heung-Min Son und Co. dabei waren, stehen am Freitagnachmittag noch immer elf Profis auf dem Trainingsplatz in Al-Ruwais. Antonio Rüdiger zum Beispiel, Manuel Neuer, Ilkay Gündogan, Julian Brandt oder auch Thomas Müller. Und der sonstige Spaßmacher gibt nun zu: „Es kommt hoch, dass die Situation so ähnlich ist wie 2018. Aber nicht, weil wir damit nicht klarkommen, sondern weil man nun mal zwei Siege braucht und weil man weiß, dass das nicht so einfach wird.“

Verdammt viele Fragen für Hansi Flick

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Die Stimmung beim vorletzten Training vor dem Schicksalsspiel gegen Spanien ist angespannt. In den Tagen vor dem Japanspiel wurde über Paddeltennis gesprochen, über Nintendo Switch und darüber, wer der beste Basketballer in der Mannschaft sei. Nun ist eindeutig der Fokus darauf gelegt, die elf besten Fußballer für die Partie gegen Spanien zu finden. Wer spielt im Abwehrzentrum neben Rüdiger? Wo spielt Kimmich? Erhält Müller doch noch eine Chance? Wird Sané, der Freitag nur teilweise mittrainierte, fit? Und wer soll ganz vorne eigentlich die Tore machen?

Es sind verdammt viele Fragen, auf die Hansi Flick bis zum Sonntag eine Antwort braucht. Findet er diese nicht, darf er mal bei Vorgänger Joachim Löw nachfragen, was ihm im Fall der Fälle drohen würde. Dessen Rauswurf war 2018 vehement gefordert worden. Der gesamte Deutsche Fußball-Verband glich einem Scherbenhaufen. Man mag sich kaum vorstellen, was passiert, wenn sich das Fiasko wiederholt. Braucht man aber auch nicht. Glaubt Manuel Neuer, der schon bei der WM in Russland im Tor stand. „Ich denke nicht an 2018“, sagt der Keeper. „Wir haben jetzt eine andere Mannschaft.“

Die steht allerdings auch auf der anderen Seite. Diesmal heißt der Gegner nicht Südkorea. Sondern Spanien. La furia roja, die rote Furie. 7:0-Auftaktsieger gegen Costa Rica. Und 6:0-Sieger gegen die deutsche Mannschaft beim letzten Aufeinandertreffen. „Das 0:6 spielt keine Rolle mehr“, sagt Brandt. „Sind wir jetzt in einer Scheiß-Situation?“, fragt er derbe – und gibt sich selbst die Antwort: „Ja, sind wir.“ Und trotzdem: „Das Spiel gegen Spanien ist eine Chance, die Stimmung zu drehen“, sagt er – und wiederholt das Wort noch einmal, bevor auch dieses jemand vergessen könnte: „Eine Chance!“