Essen/Boston. 1967 schummelte sich die US-Läuferin Kathrine Switzer beim Boston-Marathon ins Starterfeld und wurde zur Ikone der Frauenbewegung.

Hunderttausende Zuschauer feierten am Wochenende beim Berlin-Marathon den Weltrekord von Eliud Kipchoge. Partystimmung begleitete die 45.000 Teilnehmer auf dem Weg durch die Stadt. Und niemand machte sich Gedanken darüber, dass auch Frauen auf die 42-Kilometer-Strecke gingen. Das aber war nicht immer so.

19. April 1967, ein kühler April-Morgen. An der Startlinie des Boston-Marathons drängen sich zahlreiche Läufer, können den Startschuss kaum erwarten. Was fast niemand ahnt: Unter den Teilnehmern befindet sich auch eine Frau: Kathrine Switzer. Allein, dass sie an der Startlinie steht, hat die damals 20-Jährige eine Menge Überzeugungsarbeit gekostet. Es sollte nur der Anfang eines abenteuerlichen Unterfangens sein.

Renn-Organisatoren schöpften keinen Verdacht

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„Ich musste meinem Trainer erst zeigen, dass ich es schaffen kann“, sagt die heute 75-Jährige im Gespräch mit dieser Zeitung. Damals, 1967, war es Frauen nämlich verboten, einen Marathon zu laufen. Sie seien dazu nicht in der Lage, hieß es. Oder ihre Gebärmutter könne dabei herausfallen. Dass das alles großer Quatsch ist, wollte Kathrine Switzer an diesem Morgen beweisen. Also meldete sich die Amerikanerin zu dem Lauf an. Mit ihren Initialen, K.V. Switzer, so wie sie sich seit ihrer Jugend schrieb. Keiner der Renn-Organisatoren schöpfte Verdacht. Auch am Start, bekleidet mit einem dicken Pullover und Mütze, blieb die junge Sportlerin zunächst unerkannt.

Was danach passierte, ist heute Teil der Sport-Historie: Nach einigen Kilometern des Boston-Marathons, Kathrine Switzer hatte inzwischen ihre Mütze abgenommen, hörte sie ein merkwürdiges Klackern hinter sich. „Ich habe mich umgedreht und das wütende Gesicht des Renndirektors Jock Semple gesehen“, erinnert sich Switzer. „Verlass verdammt noch mal mein Rennen und gib mir die Startnummer“, soll er geschrien haben. Eine Frau im Männerrennen? Mit einer offiziellen Startnummer? Das durfte nicht sein.

Rennleiter zur Seite geschubst

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„Er hat versucht, mir die Nummer, die 261, abzureißen, aber er hat nur eine Ecke erwischt“, schildert die damalige Journalistik-Studentin. Ihr Freund, der Hammerwerfer Tom Miller, der mit ihr lief, eilte herbei. Er setzte zu einem kräftigen Rempler an und schubste Renndirektor Semple beiseite.

„In dem Moment war ich verunsichert, aber gleichzeitig auch wütend. Und mir war klar, ich muss dieses Rennen beenden, und wenn ich am Ende auf Händen und Knien durchs Ziel krieche“, erzählt die im bayerischen Amberg geborene Tochter eines US-Soldaten. Es sei ein entschiedener Moment in ihrem Leben gewesen. Ihr „261 Moment“. „Jeder außer meinen Teamkollegen hat erwartet, dass ich aufgebe. Es war diese Grundstimmung, dass Frauen in Bereiche vordringen, in denen sie nicht willkommen sind und es sowieso nicht schaffen. Aber ich wusste, dass ich es kann. Ich musste es schaffen“, sagt sie. „Für mich und für alle Frauen.“

Die Bilder gingen um die Welt

Und tatsächlich schaffte es Switzer nach 4:20 Stunden ins Ziel und wurde somit die erste Marathon-Teilnehmerin mit einer offiziellen Startnummer: Ein Durchbruch in der Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Sport. Die Bilder von ihr und dem aufgebrachten Renndirektor gingen um die Welt.

Doch zuerst hatte sich die damals 20-Jährige ihrem Coach Arnie Briggs beweisen müssen. Switzer war die einzige Frau in ihrer Trainingsgruppe an der Syracuse University. Ihr Trainer erzählte immer wieder vom Boston-Marathon, den er selbst etliche Male bestritten hatte. Eines Tages sagte Switzer: „Lass uns aufhören, darüber zu reden. Lass uns den Boston-Marathon laufen.“ Ihr Coach nahm sie nicht ernst, erklärte, dass Frauen keinen Marathon laufen könnten. Die junge Sportlerin hielt dagegen: „Als ich sagte, es sei aber schon mal eine Frau, nämlich Roberta Gibb, den Boston-Marathon heimlich gelaufen, da ist er regelrecht explodiert“, erinnert sie sich. „Arnie hat aber auch gemerkt, wie ernst ich es meinte“, berichtet sie. „Nach einiger Diskussion sagt er dann: ‚Wenn du es mir beweisen kannst, dann werde ich der Erste sein, der dich dabei unterstützt.‘ Und man muss ihm zugute halten, dass er sich an sein Versprechen gehalten hat. Was ihm auch Ärger einbrachte.“

Mit 70 noch einmal den Boston-Marathon gelaufen

Als beide die 42 Kilometer einige Wochen vor dem Boston-Marathon im Training gelaufen waren, schlug Switzer vor, acht weitere Kilometer dranzuhängen. „Ich war mir nicht sicher, ob wir uns nicht vielleicht verrechnet hatten bei der Strecke. Nach dem Lauf ist Arnie vor Erschöpfung zusammengebrochen“, sagt die Lauf-Pionierin und lacht. „Ich hingegen wurde immer besser, je länger die Strecke wurde.“

Dann, am 19. April 1967, nahm die Geschichte ihren Lauf, und Kathrine Switzer zog nach den zurückgelegten 42,195 Kilometern in die Sport-Geschichte ein. „Der Boston-Marathon damals hat mein Leben komplett verändert“, sagt die Läuferin, die nach dem Ende ihrer aktiven Laufbahn ein Programm für Frauenläufe weltweit entwickelte: „Fearless 261“, in Anlehnung an ihre Startnummer. „Frauen müssen sich gegenseitig unterstützen, Vorbilder sein“, betont Switzer, die noch immer läuft und vor fünf Jahren in Boston noch einmal eine Zeit von 4:40 Stunden schaffte – mit 70 Jahren. Inzwischen ist „Fearless 261“ auf allen Kontinenten vertreten, mehr als 400 Frauenläufe haben bereits stattgefunden. „Durch das Laufen werden Frauen weltweit dabei unterstützt, ein mutiges, selbstbewusstes und gesundes Leben zu führen“, erklärt Switzer.

Das Konzept spielte auch eine wichtige Rolle bei der Aufnahme des Frauen-Marathons ins Olympische Programm. 1984 in Los Angeles war es dann soweit. Die Amerikanerin Joan Benoit gewann den ersten olympischen Marathon. Kathrine Switzer saß als TV-Kommentatorin auch im Stadion. „Es haben dadurch Millionen von Menschen weltweit sehen können, wozu Frauen auch körperlich in der Lage sind. Dass sie nämlich sehr wohl einen Marathon laufen können. Und das ziemlich schnell. Für mich war das einer der entscheidendsten Momente in der Gleichberechtigung.“