Berlin. Hohe Temperaturen sind eine unterschätzte Gefahr für Menschen, die auf der Straße leben. Obdachlose sind der Hitzewelle ausgeliefert.
Ihre Augen verraten eine Mischung aus Hunger und Erschöpfung, als Zyulbie Selimova die Portion Dosen-Ravioli von ihrem Teller löffelt. Es ist einer der heißesten Tage des Jahres in Berlin, das Thermometer zeigt an diesem frühen Dienstagnachmittag 34 Grad Celsius an. Draußen, an der Ecke Kurmärkische Straße/Frobenstraße, einer Gegend von Zwangsprostitution und Drogenmissbrauch, liegt beißender Uringeruch in der Luft. Die Sonne brennt auf den Asphalt.
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Selimova, eine obdachlose Bulgarin mit Zahnlücken und einem zu kleinen T-Shirt, sitzt auf einem Stuhl auf der schattigen Veranda der „Hitzehilfe“. Seit dieser Woche können obdachlose Menschen hier Schutz suchen, trinken, duschen, auf Toilette gehen. „Es hilft mir, weil es hier kalt ist und ich etwas trinken kann“, sagt Selimova. Ihr Deutsch ist kaum zu verstehen.
Hitze als Gefahr für Obdachlose: 45.000 Menschen betroffen
Die 36-Jährige ist nach einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) zurzeit eine von rund 45.000 obdachlosen Menschen in Deutschland. Für sie ist die Hitze eine Gefahr. Allein Berlin ist mit geschätzt 6000 bis 10.000 Obdachlosen trauriger Spitzenreiter in Deutschland.
„Obdachlose Menschen sind besonders vulnerabel, da sie häufig schon vorerkrankt sind. Wer beispielsweise unter einer Stoffwechselkrankheit oder Bluthochdruck leidet, ist von der Hitze besonders bedroht“, sagt BAGW-Geschäftsführerin Werena Rosenke. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband warnt: „Hitze ist für Obdachlose genauso lebensgefährlich wie Kälte. Asphalt und Beton in den Städten heizen sich über den Tag massiv auf, sodass es für Menschen, die ohne Obdach auf der Straße leben, kaum ein Entkommen vor der Hitze gibt.“
"Hitzehilfe" in Berlin ist erste Einrichtung ihrer Art
Umso verwunderlicher erscheint, dass die „Hitzehilfe“ in Berlin-Schöneberg die bisher einzige feste Einrichtung in Deutschland ist, die Obdachlose gezielt bei Hitze unterstützt. Die „Hitzehilfe“ ist ein Modellprojekt des Internationalen Bunds Berlin-Brandenburg (IB) und der Stadt. Gefördert wird das Projekt von der Berliner Senatsverwaltung für Soziales.
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Mit dem Testlauf will die Sozialverwaltung die Hitzehilfe für kommende Sommer verbessern. Eigentlich sind in Berlin die Bezirke für die Unterbringung von Obdachlosen verantwortlich. Der hohen Zahl an Menschen ist die Stadt aber seit Jahren nicht gewachsen. Auf Bundesebene will das Ministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen im kommenden Jahr einen nationalen Aktionsplan zur Hilfe von Obdachlosen vorstellen, die Hauptzuständigkeit liegt jedoch weiter bei den Kommunen.
Deutlich mehr Angebote im Winter für Obdachlose
Dass Kältehilfe für Obdachlose weit verbreitet, Hitzehilfe aber kaum existent ist, ärgert Artan Zeka. „Im Winter gibt es viel mehr Angebote für Obdachlose“, sagt Zeka, der als IB-Koordinator bei dem Projekt in Schöneberg mitarbeitet.
Konkrete Zahlen zu Hitzetoten unter Obdachlosen gibt es in Deutschland nicht, auch weil sie häufig außerhalb staatlicher Kontrolle leben. Viele haben keine gültigen Ausweisdokumente. „Die Kombination aus Drogen, Alkohol und Dehydrierung ist im Sommer die große Gefahr“, sagt Zeka.
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Obdachlose in der Hitze: Cappies und Trinkflaschen sind besonders gefragt
Sieben Zimmer mit insgesamt 30 Betten bietet das ehemalige Familienzentrum in Schöneberg. Bis Ende September sorgen hier täglich fünf Mitarbeiter von zehn bis 20 Uhr kostenlos für Getränke, eine Dusche, Toiletten, Kleidung, Sonnenschutz- und Hygieneartikel. „Die Cappies waren besonders schnell weg, Trinkflaschen auch“, berichtet Zeka, graues T-Shirt, tätowierte Arme, sportliche Figur.
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Im Winter habe man das Gebäude des Bezirks bereits für die Kältehilfe genutzt, die Anlaufstelle sei deshalb bekannt. Rund um den nahen U-Bahnhof Kurfürstenstraße gebe es eine große Obdachlosenszene, wo das Angebot schnell die Runde mache, sagt er.
Veranda war zuvor Treffpunkt für Zwangsprostituierte
Auch Zyulbie Selimova war schon im Winter in der Einrichtung zu Gast. Schon in den Wochen vor der Eröffnung der „Hitzehilfe“ schlief sie häufig im Garten. Nachts bot ihr das städtische Gelände etwas Schutz, tagsüber spendeten die Bäume Schatten. Die Veranda war zuvor schon monatelang ein Treffpunkt für Zwangsprostituierte aus der Gegend.
Wie sie obdachlos geworden ist, will Selimova nicht sagen, seit wann sie in Deutschland ist, kann sie nicht sagen. Nur so viel: Für das Hilfsangebot sei sie dankbar, sagt die Frau, während sie ihren Teller auf dem Schoß balanciert. Vor ein paar Wochen seien leider die Tische von der Veranda geklaut worden, erzählt IB-Koordinator Zeka. Spenden, insbesondere wiederverwendbare Trinkflaschen, würden dringend benötigt.
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Alkohol und Drogen sind in der Einrichtung verboten
Abgesehen vom Security-Mitarbeiter, der den Obdachlosen am Eingang die im Haus verbotenen Drogen und den Alkohol abnehmen soll, erinnert die Atmosphäre in der Einrichtung an eine Jugendherberge. Neben einem kühlen Gemeinschaftsraum gibt es eine Küche, auf dem Herd köcheln die Ravioli. Auf einem Tisch stehen zwei große Kühlbehälter mit Wasser und Eistee, neben dem Herd stapeln sich Konservendosen.
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Im Flur begrüßt Zeka die Neuankömmlinge, auch ein Hund darf sich in einem Nebenraum etwas abkühlen. Öffentlich über seine Situation sprechen will kaum einer der Obdachlosen, niemand sein Gesicht in den Medien sehen.
Obdachlose Menschen: Gefahr im Sommer genauso groß wie im Winter
Dass die Not auf den Straßen im Sommer nicht weniger groß als im Winter ist, ist laut BAGW-Geschäftsführerin Rosenke derweil noch nicht im Bewusstsein der Gesellschaft angekommen. „Häufig gibt es die Vorstellung, dass das Leben für obdachlose Menschen im Sommer eigentlich ganz einfach ist. Das stimmt aber überhaupt nicht – und solche Hitzetage kommen nur noch erschwerend hinzu“, sagt Rosenke.
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Gebessert habe sich im Vergleich zum ersten Corona-Jahr zumindest die Verfügbarkeit von öffentlichen Trinkbrunnen, die wegen des Infektionsschutzes lange abgedreht waren. Dennoch würden obdachlose Menschen aus halböffentlichen Räumen wie beispielsweise klimatisierten Einkaufszentren häufig einfach rausgeschmissen. „Das darf man mit diesen Menschen nicht machen“, sagt Rosenke.
Paritätischer Gesamtverband fordert bundesweite Angebote
Dass es abgesehen von mobilen Teams, die beispielsweise Wasser an Obdachlose verteilen, bei Hitze bisher kaum Anlaufpunkte für Bedürftige gibt, stören sowohl die BAGW als auch den Paritätischen Gesamtverband, der Angebote wie in Schöneberg nun bundesweit fordert.
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„Natürlich werden mit solchen Hilfsangeboten vor allem Symptome der Obdachlosigkeit bekämpft. Trotzdem sind diese Angebote wichtig, weil sie den Menschen sehr helfen“, sagt BAGW-Geschäftsführerin Rosenke. Grundsätzlich seien aber die Kommunen bei der Ursachenbekämpfung gefordert. Sie seien in der Pflicht, Unterkünfte zu stellen und Wohnraum für Obdachlose zu schaffen.
Für Zyulbie Selimova ist eine eigene Wohnung zurzeit nicht in Sicht. Sie wird auch morgen wieder zur „Hitzehilfe“ kommen, etwas trinken, möglicherweise kurz duschen. Der Wetterbericht hat den nächsten Hitzetag bereits angekündigt.