Berlin. Seit Donnerstag verhandelt ein Gericht den Wirecard-Betrug. Zu Beginn trifft Ex-CEO Braun auf den Mann, der ihn ins Gefängnis brachte.

Der Prozess startet mit 45 Minuten Verspätung. Grund sind die Sicherheitskontrollen für die vielen Besucher. Markus Braun kommt in blauem Anzug, schwarzem Rollkragenpulli und randloser Brille – seinem typischen Outfit, das er auch zu jener Zeit trug, als er Wirecard noch als Vorstandsvorsitzender leitete. Der 53-Jährige blickt ernst und nimmt auf der Anklagebank zwischen seinen Anwälten in dem unterirdischen Sitzungssaal des Münchner Landgerichts neben der Justizvollzugsanstalt Stadelheim Platz.

Im Juni 2020 ist der ehemalige DAX-Konzern Wirecard zusammengebrochen, nachdem 1,9 Milliarden Euro unauffindbar waren. Seit Donnerstag müssen sich Markus Braun und zwei weitere Ex-Manager für ihr Handeln um den möglicherweise größten Betrugsfall in Deutschland seit 1945 verantworten.

Die Staatsanwaltschaft wirft Braun vor, mit seinen Komplizen in der Chefetage eine Betrügerbande gebildet, Bilanzen gefälscht und Kreditgeber geprellt zu haben. Angeklagt sind auch der frühere Dubai-Geschäftsführer Oliver Bellenhaus und der ehemalige Chefprokurist Stephan von Erffa. Einer fehlt in dem Saal: Jan Marsalek – der frühere Finanzvorstand ist seit mehr als zwei Jahren auf der Flucht.

Wirecard-Prozess: Kronzeuge hofft auf milde Strafe

Der erste Verhandlungstag widmet sich der Verlesung des Anklagesatzes von 89 Seiten und dauert mehrere Stunden. Die Anklage umfasst insgesamt 474 Seiten. Angesetzt sind für den Strafprozess 100 Verhandlungstage bis Ende 2023. Viele Zeugen aus dem In- und Ausland sollen gehört werden.

Zu Beginn werden die Personalien verlesen und Braun gefragt, ob er seit zweieinhalb Jahren in U-Haft sitze. Seine Antwort: „Absolut richtig“. Braun wird voraussichtlich erstmals nächste Woche zu den Vorwürfen persönlich aussagen. Allerdings sieht sich Braun nicht als Täter. Der Ex-Vorstandschef bestreitet vielmehr alle Vorwürfe und sieht sich als Opfer krimineller Machenschaften.

Sein früherer Geschäftsführer Bellenhaus sieht dies anders und will als Kronzeuge in dem Prozess auftreten. „Er wird seine Schuld eingestehen“, sagte vor Verhandlungsbeginn Florian Eder, einer der Verteidiger von Bellenhaus. „Er war es, der die Ermittlungsbehörden auf die richtige Spur geführt hat.“ Im Gegenzug erhoffen sich die Verteidiger, dass Bellenhaus einen „sehr deutlichen Strafnachlass“ erhalte und aus der U-Haft entlassen werde.

Braun beschuldigte zuvor wiederum Bellenhaus, die vermissten Milliarden veruntreut zu haben. Hier stehen Aussage gegen Aussage. Und das Gericht wird die Mammutaufgabe haben, Licht ins Dunkel der undurchsichtigen Machenschaften bei Wirecard zu bringen.

Großer Andrang vor der Münchener JVA-Stadlheim: Der Wirecard-Prozess findet unterirdisch statt.
Großer Andrang vor der Münchener JVA-Stadlheim: Der Wirecard-Prozess findet unterirdisch statt. © Angelika Warmuth/dpa

Wirecard nach dem Fall: 6000 Mitarbeiter verlieren ihren Job

Wirecard glänzte jahrelang mit rasant steigenden Umsätzen. Nach der Insolvenz im Sommer 2020 rauschte der Aktienkurs in den Keller. Aktionärinnen und Aktionäre verloren mehr als 20 Milliarden Euro, kreditgebende Banken rund 3,1 Milliarden Euro. Und rund 6000 Mitarbeiter weltweit stehen vor dem Nichts. Eben noch ein Unternehmen, das die Deutsche Bank kaufen wollte, jetzt der größte Finanzskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Und was für einer: Es geht um die Gier der Anleger, hervorragende Inszenierungen, Geheimdienste, die Pornoindustrie, Glücksspiel. Um Aufsichtsbehörden, die offenbar nicht so genau hinsehen konnten. Und darum, wie mit viel Aufwand verhindert werden sollte, dass die Wahrheit bekannt wird.

Vieles ist immer noch unklar. Möglicherweise wird der Prozess gegen den ehemaligen Konzernchef Braun einiges erhellen, der an diesem Donnerstag in der Münchener Justizvollzugsanstalt Stadelheim beginnt (Az 4 KLs 402 Js 108194/22). Die Anklageschrift hat 474 Seiten. Der Vorwurf: Bilanzfälschung, Untreue, Marktmanipulation und gewerbsmäßiger Betrug. Mit Braun angeklagt sind der ehemalige Chefprokurist Stephan von Erffa und der Geschäftsführer eines Wirecard-Partnerunternehmens in Dubai. Der Prozess ist auf 100 Verhandlungstage angesetzt und wird mindestens bis 2024 dauern. Braun streitet alle Vorwürfe ab.

Der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun muss sich nun vor dem Münchener Landgericht verantworten.
Der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun muss sich nun vor dem Münchener Landgericht verantworten. © dpa | FABRIZIO BENSCH

Wirecard-Prozess: Ex-Vorstand sitzt seit Juli 2020 in U-Haft

Der ehemalige Wirecard-Chef sitzt seit Juli 2020 in Untersuchungshaft. Dass er am Donnerstag im schwarzen Rollkragenpullover erscheint, ist eher unwahrscheinlich. Dabei inszenierte er sich gern als Mastermind in der Tradition des legendären Apple-Chefs Steve Jobs, verkündete üppige Umsatzsprünge und satte Kursgewinne – selbst als es sehr eng wurde. Vor Gericht ist wohl eher Demut angezeigt.

Die Geschichte Wire Cards beginnt 1999. Damals wird der Name noch getrennt geschrieben. Das Unternehmen will Zahlungen zwischen Kreditkartenfirmen, Kunden und Onlinehändlern abwickeln. 2005 wird das Unternehmen mit Infogenie verschmolzen, kommt so an die Börse. Markus Braun wird Chef. Wie viele technische Neuerungen nutzen am Anfang vor allem Firmen aus Porno- und Glückspielbranche den Service. Schmutziges Geld zu verdienen, wird Wirecard auch später vorgeworfen. Das Unternehmen dementiert, wie eigentlich immer.

Blick in den Gerichtssaal: Die Anklagebank im Sitzungssaal des Landgerichts München I an der JVA Stadelheim.
Blick in den Gerichtssaal: Die Anklagebank im Sitzungssaal des Landgerichts München I an der JVA Stadelheim. © dpa | Carsten Hoefer

Das Geschäft wächst zunächst langsam, der Aktienkurs auch. Von 2014 an geht es richtig los bei Wirecard, im September 2018 ersetzt der Neuling die altehrwürdige Commerzbank im Deutschen Aktienindex Dax. Das deutsche Tech-Wunder ist zeitweise 25 Milliarden Euro wert. Braun spielt eine Übernahme der Deutschen Bank durch, was prompt öffentlich wird und zum Nimbus beiträgt. Alles, so scheint es, ist beim Finanzdienstleister aus Aschheim bei München möglich.

Wirecard wuchs vor allem in Asien

Wirecard wächst vor allem in Asien. Dort gibt es ein besonderes System: Wo die Firma nicht direkt selbst tätig werden kann, arbeitet sie mit Partnern, die das Geschäft im Auftrag Wirecards abwickeln, und Treuhändern, die das Geld verwalten. Was vernünftig klingt, öffnet auch die Chance dazu, Geschäft einfach zu erfinden.

Hintergrund: Warum geschädigten WirecardWarum geschädigten Wirecard-Anlegern weiterer Ärger droht

So laufen mehrere hundert Millionen Euro Umsatz des Wirecard-Geschäfts zeitweise angeblich über eine Partnerfirma in Dubai, deren Büroausstattung bei einem Besuch der „Wirtschaftswoche“ sehr zurückhaltend ist. Verantwortlich für das offenbar aufgeblasene Asien-Geschäft war Vize-Chef Marsalek. Der brüstete sich gern mit seinen Geheimdienstkontakten. Er verschwand nächtens mit einer Privatmaschine Richtung Belarus, soll sich in Moskau aufhalten und hat vorher offenbar noch mehrere hundert Millionen Euro bei Wirecard abgezweigt. Er wird per internationalem Haftbefehl gesucht.

Dass etwas faul ist beim Finanzdienstleister, wusste Dan McCrum schon länger. Der Finanzjournalist der „Financial Times“ schrieb mit Kollegen seit 2015 über Unstimmigkeiten in der Wirecard-Bilanz. Das Unternehmen seinerseits bezeichnete die Berichte als Teil einer Schmutzkampagne von Anlegern, die auf fallende Kurse wetteten.

Wirecard: Warum die Kritiker ins Visier geraten

Ein typisches Vorgehen: Wir sind die Guten, die Neider wollen uns fertig machen. McCrum berichtet später davon, sich bedroht zu fühlen. Er arbeitete monatelang in einem fensterlosen, abgeschirmten Raum ohne Internetverbindung, aus Angst, abgehört zu werden.

Wenig überzeugend auch die Arbeit der Finanzaufsicht. Spätestens, als über Unregelmäßigkeiten berichtet wurde, hätte jemand genauer hinschauen müssen. Stattdessen zeigte die Bafin Berichterstatter McCrum an und verbot zunächst sogenannte Leerverkäufe, mit denen Investoren auf fallende Kurse wetten – ein einmaliger Vorgang, der die Anleger in Sicherheit wog. Sie hatten schon vorher darauf vertraut, dass bei Wirecard alles in Ordnung war.

Letztlich zwang der Druck der Enthüllungen Wirecard dann zu Sonderuntersuchungen. Die Wirtschaftsprüfer von EY, die jahrelang die Bilanzen von Wirecard geprüft haben, sind plötzlich nicht mehr so sicher. Und die Kollegen von KPMG finden kein Geld, wo doch Milliarden sein sollen.

Im Juni 2020 kann Wirecard dann den Jahresabschluss von 2019 nicht vorlegen. Markus Braun erklärt noch steif, fast wie ein Automat in einem offiziellen Video: „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Wirecard AG in einen Betrugsfall erheblichen Ausmaßes zum Geschädigten geworden ist.“ Dann ist Schluss.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.