Berlin. Die Kassenärzte erwarten deutliche Zunahme von Verdachtsfällen von Long Covid – Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist alarmiert.

Jördis Frommhold behandelt die schweren Fälle. Den ehemaligen Triathleten, der kaum noch spazieren gehen kann. Die Mutter, die kognitiv nicht mehr in der Lage ist, die Matheaufgaben ihres Kindes zu verstehen. Den Studenten, der die Grundrechenarten neu erlernen muss. Menschen, die nach einer überstandenen Corona-Infektion an Long Covid leiden und zu Frommholds Klinik an der Ostseeküste kommen.

Die Medizinerin ist eine der wichtigsten Expertinnen für Long Covid. Die allermeisten Patienten landen jedoch nicht in der Klinik, sondern bei den mehr als 50.000 Hausärztinnen und Hausärzten in Deutschland. Der Beratungsbedarf in den Arztpraxen sei jetzt schon immens. "Und er wird eher noch wachsen", sagt Kassenärztechef Andreas Gassen.

Es ist eine einfache Rechnung: Je mehr Menschen sich mit Sars-CoV-2 infizieren, desto größer wird voraussichtlich die Zahl derjenigen, die an Langzeitfolgen leiden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) warnt angesichts der Rekord-inzidenzen bereits vor einer neuen Volkskrankheit: "Long Covid droht eine der wichtigsten chronischen Krankheiten in Deutschland zu werden." Was wissen wir zwei Jahre nach Beginn der Pandemie über das Langzeitphänomen Long Covid – und was hilft dagegen?

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Corona: Wann spricht man von Long Covid?

Für Long Covid gibt es noch keine abgeschlossene klinische Definition. In der Regel versteht man unter Long Covid gesundheitliche Beschwerden, die jenseits der akuten Corona-Krankheitsphase von vier Wochen fortbestehen oder neu auftreten. Beschwerden, die noch mehr als zwölf Wochen nach Beginn der Infektion vorhanden sind und nicht anderweitig erklärt werden können, werden zum Teil auch als Post-Covid-Syndrom bezeichnet. In der Regel würden Long-Covid-Symptome noch ein bis drei Monate nach der akuten Erkrankung auftreten, sagt Frommhold.

Wie oft kommt Long Covid vor?

Verlässliche Daten gibt es noch nicht. "Unterschiedliche Studien kommen zu sehr unterschiedlichen Schätzungen", heißt es beim Robert-Koch-Institut (RKI). Einige Trends immerhin lassen sich erkennen: Für Erwachsene, die stationär behandelt werden mussten, wird demnach berichtet, dass bis zu 76 Prozent noch sechs Monate nach Entlassung aus dem Krankenhaus ein oder mehrere Symptome haben.

Eine andere Studie habe gezeigt, dass etwa eine von zehn Personen mit zunächst geringen oder sogar fehlenden Symptomen auch Monate nach der akuten Erkrankung noch Symptome wie etwa Atembeschwerden, Schlaflosigkeit, Geschmacksstörungen und Müdigkeit hatte.

Dieselbe Studie habe gezeigt, dass Covid-19-Langzeitfolgen auch junge, gesunde Menschen ohne Vorerkrankungen betreffen können, heißt es beim RKI. Eine umfassende Analyse von Versichertendaten zeige zudem, dass die Inzidenz für körperliche und psychische Diagnose- und Symptomkomplexe nach einer vorangegangenen Covid-19-Erkrankung erhöht ist im Vergleich zu Personen ohne nachgewiesene Corona-Infektion.

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"Die Datenlage zu Long Covid ist noch sehr lückenhaft", sagt auch An­dreas Gassen, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Grundsätzlich aber sei das Phänomen von Langzeitfolgen nach Infektionskrankheiten nicht neu. "Der Unterschied zu anderen Viruserkrankungen besteht aber in jedem Fall in der schieren Menge der Infektionen in der Bevölkerung, allein deshalb dürfte es mehr Fälle mit Langzeitfolgen geben." Gesundheitsminister Lauterbach warnte deswegen jüngst auf Twitter: Long Covid lasse Zehntausende chronisch krank zurück, "das macht keine Grippe".

Woran erkennt man Long Covid?

Laut RKI sind dies die häufigsten Symptome, die einzeln oder in Kombination auftreten können: Müdigkeit, Erschöpfung und eingeschränkte Belastbarkeit, Kurzatmigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Schlafstörungen, Muskelschwäche und -schmerzen sowie psychische Probleme, etwa depressive Symptome oder Ängstlichkeit.

Neben einer Verschlechterung der Lungenfunktion ließen sich auch andere Organkomplikationen beobachten, etwa Herzmuskelentzündungen und neu aufgetretene Nieren- und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes. Insgesamt gebe es bis zu 200 verschiedene Long-Covid-Symptome, sagt Medizinerin Frommhold. Anders als viele glaubten, handele es sich keinesfalls um ein rein psychosomatisches Krankheitsbild. Eine Studie der Uni Oxford hatte vor Kurzem darauf hingewiesen, dass eine Infektion mit dem Coronavirus das Gehirn schädigen könne.

Corona-Spätfolgen sind medizinisch schwer festzustellen. Sie bedeuten für die Betroffenen aber eine enorme Einschränkung.
Corona-Spätfolgen sind medizinisch schwer festzustellen. Sie bedeuten für die Betroffenen aber eine enorme Einschränkung. © dpa | Sebastian Gollnow

"Das Problem ist: Long Covid ist ein regelrechtes Symptomenchamäleon, es ist daher gar nicht so eindeutig zu dia­gnostizieren", sagt Gassen. Oft seien Menschen betroffen, die milde Verläufe hatten – und dann nach zwei, drei Monaten auf einmal Probleme bekämen. "Wenn ein Patient mit unklaren Symptomen in die Praxis kommt, der vor längerer Zeit eine Infektion durchgemacht hat, müssen die Ärztinnen und Ärzte natürlich auch den Verdacht auf Long Covid prüfen."

Müdigkeit und eine depressive Verstimmung nach einer Infektion? Das könne ein Zeichen für Long Covid sein, müsse es aber nicht. Die Dia­gnostik sei anspruchsvoll und zeitlich aufwendig. Auch die Behandlung sei je nach Symptomkonstellation sehr unterschiedlich – mal mit Medikamenten, mal auch mit Reha- und Kurmaßnahmen.

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Was hilft jetzt im Umgang mit Long Covid?

Gassen wünscht sich nun bessere Rahmenbedingungen für den Umgang mit Long-Covid-Fällen: "Für Ärzte und Patienten wäre es natürlich sehr hilfreich, wenn es eine präzisere Definition von Long Covid gäbe, die eine zuverlässige Diagnose ermöglicht."

Denkbar wäre etwa eine bestimmte Kombination von subjektiven Symptomen wie Müdigkeit, Niedergeschlagenheit oder Antriebslosigkeit und objektiven, messbaren medizinischen Parametern, die dann zur Diagnose Long Covid führe. "Das würde nicht nur den Hausarztpraxen, sondern auch den Patienten helfen", so Gassen. "Viele wünschen sich bei unklaren Beschwerden natürlich Klarheit."

Jördis Frommhold war neulich in Berlin, um über ihre Arbeit mit Long-Covid-Patienten zu berichten. Sie schloss ihren Bericht mit einer klaren Botschaft: Der beste Schutz gegen Long Covid sei die Impfung. Vollständig Geimpfte hätten laut einer israelischen Studie bei einer Durchbruchsinfektion ein um 68 Prozent reduziertes Risiko, an Long Covid zu erkranken.

Dieser Text erschien zuerst auf www.morgenpost.de