Berlin. Unter #Wirwerdenlaut verlangen Schülerinnen und Schüler mehr Schutz vor Corona. Doch nicht alle ihre Forderungen stoßen auf Beifall.

Anjo Genow hat, was viele Schülerinnen und Schüler sich in Deutschland derzeit wünschen: Wenn er morgen nicht zur Schule gehen möchte, weil er ihm das Risiko einer Coronainfektion zu hoch ist, muss er nicht. Denn Genow geht in Berlin zur Schule, und die Hauptstadt hat die Präsenzpflicht für Schülerinnen und Schüler derzeit ausgesetzt. Wenn es nach Genow geht, sollten auch alle anderen Bundesländer diesem Beispiel folgen.

Der 17-Jährige ist Schülersprecher am Otto-Nagel-Gymnasium im Osten Berlins und der Initiator von #Wirwerdenlaut, einer Kampagne von Schülerinnen und Schülern, die sich angesichts der in immer neue Rekordhöhen steigenden Corona-Zahlen nicht mehr sicher fühlen in den Klassenzimmern. „Unerträglich“ sei die Situation an Schulen nach zwei Jahren Pandemie, heißt es in der Petition der Initiative. „Wir haben unsere Belastungsgrenze erreicht.“

Die Initiative beklagt, es würden Todesfälle in Kauf genommen

Kinder und Jugendliche würden in überfüllte Klassenräume mit unzureichenden Infektionsschutzmaßnahmen gezwungen, vermeidbare Infektionen mit „milden” Verläufen oder gar Todesfälle bei Kindern, Jugendlichen und ihren Familien in Kauf genommen.

Was Genow und den anderen Unterzeichnenden, darunter die Sprecherinnen der Landesschülervertretung in NRW und zahlreiche Schülersprecher einzelner Schulen, Sorgen macht, sind die Inzidenzen in der Omikron-Welle: Unter den 5- bis 9-Jährigen verzeichnete das RKI zuletzt eine Sieben-Tage-Inzidenz von 3322, in der Altersgruppe von 10 bis 14 lag sie bei 3295.

Rund 500.000 Schüler sind bundesweit in Quarantäne

In den Klassenzimmern führt das immer wieder zu Tischen, die leer bleiben. Nach Zahlen der Kultusministerkonferenz waren Ende Januar rund 500.000 Schülerinnen und Schüler deutschlandweit in Quarantäne. Das sind rund fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die derzeit in Deutschland eine Schule besuchen.

Die tatsächlichen Zahlen dürften noch höher liegen: Berlin meldet keine Daten mehr, weil Schnelltests nicht mehr durch PCR-Tests bestätigt werden, aus Hamburg und Niedersachsen liegen keine Daten zu Quarantänefällen vor.

#Wirwerdenlaut hat deshalb eine Reihe von Forderungen aufgestellt, um den Unterricht sicherer zu machen: Luftfilter für Klassenräume, kostenlose FFP2-Masken, PCR-Pooltests und hochwertige Schnelltests an allen Schulen und Ausgleichsmaßnahmen bei den Abschlussjahrgängen, unter anderem in der Gewichtung der Noten.

„Überfüllte Klassenräume mit unzureichendem Infektionsschutz“: Die Initiative #Wirwerdenlaut kritisiert die Corona-Bildungspolitik scharf.
„Überfüllte Klassenräume mit unzureichendem Infektionsschutz“: Die Initiative #Wirwerdenlaut kritisiert die Corona-Bildungspolitik scharf. © dpa | Bernd Weißbrod

Die Petition von #Wirwerdenlaut hat inzwischen rund 120.000 Unterstützer

Und eben die Aussetzung der Präsenzpflicht – Schüler und Schülerinnen, heißt es in der Petition, sollten „mit ihren Familien selbst entscheiden können, in welcher Art der Beschulung sie sich wohler und sicherer fühlen“. „Mit der Aufhebung der Präsenzpflicht erkennt man an, dass das Kind in den Brunnen gefallen ist“, sagt Genow. „Es ist nicht genug getan worden, um sicheren Unterricht möglich zu machen.“ Lesen Sie auch: Schulen versinken wegen Omikron im Chaos

Die Initiatoren hätten das Gefühl, dass sich alle Schülerinnen und Schüler mehr Gehör für ihre Situation wünschen und mehr Schutz in der Schule, erklärt er weiter. „Und ich glaube, dafür haben wir eine Mehrheit.“ Rund 120.000 Unterschriften hat die Petition online inzwischen gesammelt.

Die Bundesschülerkonferenz lehnt die zentralen Forderungen ab

Sicherere Schulgebäude und mehr Aufmerksamkeit für die Anliegen von denen, die zur Schule gehen, wünscht sich auch die Bundesschülerkonferenz. Doch der Dachverband der Landesschülervertretungen, in dem 13 von 16 Ländern organisiert sind, hält wenig von den zentralen Forderungen der #Wirwerdenlaut-Kampagne.

Die Aufhebung der Präsenzpflicht würde zu einer großen zusätzlichen Belastung für Lehrkräfte führen und Chancenungleichheit unter Schülerinnen und Schülern verschärfen, heißt es in einem Positionspapier des Verbands.

„Aufhebung der Präsenzpflicht klingt auf den ersten Blick nach einer guten Lösung“, sagt Katharina Swinka, Generalsekretärin der Konferenz, „aber die letzten Jahre haben leider gezeigt, dass sie das nicht ist.“

Wurden die Schülerinnen und Schüler nicht genug gehört?

Schülerinnen und Schüler, die zuhause am Unterricht teilnehmen, würden oft wenig bis keine Aufgaben erhalten. Wenn sie per Video dem Unterricht zugeschaltet sind, sei die Verbindung oft schlecht, die Geräusche der Klasse übertönen den Unterricht. „Es ist praktisch einfach nicht umsetzbar“, erklärt Swinka. „Wir haben große Sorgen, dass soziale Ungleichheiten sich so weiter verschärfen würden.“

Auch die geforderten Änderungen zur Entlastung der Abschlussjahrgänge sieht die Bundesschülerkonferenz als „unpraktikabel und schwer umsetzbar“.

In einem Punkt allerdings sind ist man sich einig mit Genow und seine Mitstreitern: Die Sorgen, das Wohlbefinden und die Forderungen von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen seien in zwei Jahren Pandemie viel zu wenig gehört worden.

KMK-Präsidentin Prien setzt auf Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern

Karin Prien (CDU), Bildungsministerin von Schleswig-Holstein und derzeit Präsidentin der Kultusministerkonferenz, hat angekündigt, auf die Kritik der Jugendlichen eingehen zu wollen. Das Anliegen der Schülerinnen und Schüler sei „nachvollziehbar und richtig“, erklärte Prien am Freitag im Anschluss an eine KMK-Schaltkonferenz, bei der #Wirwerdenlaut Thema war. „Die Belange von Kindern und Jugendlichen standen in dieser Pandemie zu wenig im Fokus.“

Am Dienstag will sie sich mit Vertreterinnen und Vertretern der Bundesschülerkonferenz treffen. Auch den Initiatoren von #Wirwerdenlaut habe man ein Angebot gemacht, sagte Prien am Freitag. Die Einladung zum Gespräch auf Twitter hat Genow gesehen. Aber gemeldet, sagte er dieser Redaktion am Montag, habe sich von der KMK bislang niemand.