Antakya. In der Türkei räumen Menschen noch immer Schutt beiseite. Viele realisieren: Sie müssen fliehen. Familien aus Syrien zum zweiten Mal.

Das Beben kam morgens um vier. „Wie ein Tornado“, sagt Firat. Erst ein Donner, wie eine Explosion. „Dann fing alles an zu zittern.“ Erst habe Firat noch gedacht, die Erschütterung sei nicht heftig, „Routine“, sagt er. In einer Region, in der Seismografen fast täglich bebende Erde aufzeichnen. „Aber dann begann es, die Wände haben hin und her gewackelt wie eine Schaukel.“

Firat, 41 Jahre alt, ein Mann mit Mütze und buschigem Vollbart, steht auf einem kleinen Platz, kaum größer als eine Straßenkreuzung, im Zentrum der Stadt Antakya nahe der türkisch-syrischen Grenze. Viele Häuser liegen in Schutt. Auf den Bürgersteigen liegen Tote, die Helfer aus den Trümmern Bergen. Oft legen Angehörige einen Koran auf die schwarzen Leichensäcke oder auf die Wolldecken.

Die obdachlosen Menschen bauen Zelte aus Plastikplanen und Holzlatten

Das Haus von Firats Familie steht noch. Aber es ist beschädigt. Niemand kann sagen, wann es einstürzen wird. „Wir können da nicht mehr leben.“ Firats Familie hat auf dem kleinen Platz Zelte aufgebaut, gemeinsam mit Menschen aus der Nachbarschaft. Kleine Unterschlüpfe aus Holzlatten und Plastikplanen. Auf dem Boden liegen Pappkartons und Decken, damit die Kälte der Nacht nicht zu stark ins Zelt kriecht.

Vater Lütfi und Mutter Widad mit ihren Kindern in den Trümmern ihres Hauses. Zum zweiten Mal verliert die Familie nach ihrer Flucht aus Syrien ihre Existenz.
Vater Lütfi und Mutter Widad mit ihren Kindern in den Trümmern ihres Hauses. Zum zweiten Mal verliert die Familie nach ihrer Flucht aus Syrien ihre Existenz. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

In der Nacht des Bebens regnet es stark. Die Familie schafft es nach draußen. Mehr als eine Minute dauern die Erschütterungen an. Als die Erde zur Ruhe kommt, rennt Firat noch einmal ins Haus, wirft Kleidung für seine Kinder aus dem Fenster im Untergeschoss, ein paar Decken. „Wir standen ja da im Pyjama.“ Er, seine Frau Sabahat, die Kinder Jumali, Said und Firuze.

Mehr als 35.000 Tote in der Türkei, aber viele Tausende auch in Syrien, zählen die Statistiken nach dem Beben schon. Die Zahl wird weiter steigen. Firat sagt: „Ich bin einfach nur glücklich, dass wir alle überlebt haben.“ Doch fast eine Woche nach der Katastrophe weicht der Schock und die Trauer bei den Überlebenden einer wachsenden Ungewissheit.

Sie werden die Städte leeren, sagt eine Helferin in Antakya. Nicht nur vom Schutt. Auch von den Menschen. „Niemals werde ich in mein Haus zurückkehren.“ Diesen Satz hört man in diesen Tagen immer wieder in der Türkei. Das Beben hat die Erde erschüttert — aber auch das Vertrauen der Menschen, dass ihr eigenes Zuhause auch ein Schutzraum ist.

1,5 Millionen Menschen allein in der Türkei, die in Zelten und Notunterkünften leben

Die Folgen sieht man auf den Straßen von Antakya. In ihren eigenen Vorgärten haben viele Menschen Zelte aufgebaut, oft nur ein paar Meter entfernt von den Trümmern ihrer Wohnungen. In leerstehenden oder halb zerfallenen Lagerhallen liegen Menschen auf Matratzen, wärmen sich an einem Lagerfeuer, dass sie mit Holz und Plastik aus dem Schutt füttern.

Laut der türkischen Regierung suchen mehr als 1,5 Millionen Menschen in Zelten, Hotels oder öffentlichen Notunterkünften Schutz. Mehr als 25.000 Häuser, die noch stehen, sind demnach schwer beschädigt oder müssen abgerissen werden. Auch diese Zahlen dürften noch deutlich steigen.

Die syrische Familie von Lütfi und Widat. Nach dem Beben müssen sie in einem Zelt aus Holzlatten und Plastikplanen leben.
Die syrische Familie von Lütfi und Widat. Nach dem Beben müssen sie in einem Zelt aus Holzlatten und Plastikplanen leben. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Im Zentrum von Antakya liegt ein großer Park. Bunte Buchstaben, so groß wie Menschen, erinnern daran, dass hier einmal ein Ort für Spaziergänge und Café-Plausch war. Nun stehen hier Dutzende große weiße Zelte des türkischen Katastrophenschutzes AFAD.

Überall hocken Menschen vor und in den Zelten, überall liegt Plastikmüll, verschmierte Kleidung, Essensreste. Viele, die das Beben obdachlos gemacht hat, erzählen, dass es seit Tagen kaum Toiletten oder Waschbecken gebe. Und die wenigen Toiletten seien längst überfüllt.

Noch immer soll Orte geben, in die weder Rettungsteams noch Hilfsgüter kommen

Hilfsorganisationen sind besorgt, dass Krankheiten ausbrechen, dass sich Infektionskrankheiten wie Cholera verbreiten können. „Vor allem fehlen Zelte“, sagen Murat Albayak und Selçuk Çoliskan von der türkischen Organsation Inisjyatif. Das Problem: In den ersten Tagen nach dem Beben ging es nur ums Überleben. Es kam auf jede Stunde an, die Menschen aus den Trümmern zu retten. „Da haben Zelte niemanden interessiert“, sagt Albayak. Und viele harren noch immer Tag und Nacht vor ihren zerstörten Häusern aus, wollen die Hoffnung nicht aufgeben, dass ihre Mütter, Großeltern oder Kinder doch noch leben. Doch noch überleben.

Noch immer soll es auch knapp eine Woche nach der Katastrophe Orte geben, in denen weder Rettungsteams noch Hilfsgüter angekommen sind. Vor allem die Dörfer in den Bergen des Taurusgebirges scheinen mit den Folgen des Bebens noch allein kämpfen zu müssen.

Fußballfeldgroße Trümmerfelder: In der Stadt Antakya wurden viele Häuser zerstört, Tausende sind derzeit obdachlos.
Fußballfeldgroße Trümmerfelder: In der Stadt Antakya wurden viele Häuser zerstört, Tausende sind derzeit obdachlos. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Aus den Städten sind viele betroffene Menschen zu ihren Verwandten in anderen Provinzen der Türkei gezogen. Die Familien helfen sich. Zugleich beginnen die türkischen Behörden obdachlose Anwohner aus der Region in andere Städte zu transportieren. Am Rand von Antakya organisiert ein großes „Krisenzentrum“ die Reisen.

Auch Firats Frau und die Kinder sollen heute mit dem Bus in die Küstenstadt Mersin fahren. Wo sie dann landen, wissen sie nicht. Viele sind verunsichert, Informationen sind Mangelware. Firat will in seiner Heimatstadt bleiben — und helfen.

UN-Flüchtlingshilfswerk: 5,4 Millionen Menschen brauchen Hilfe bei Unterkünften

Besonders schwer treffen die Folgen des Bebens die Menschen aus Syrien. Menschen wie Lütfi und seine Frau Widad. Schon vor knapp zehn Jahren sind sie aus der Stadt Idlib im Westen Syriens in die Türkei geflohen. Vor Krieg, Terrormilizen, vor Hunger und Zerstörung. Wie diese Familie suchten Millionen Menschen aus Syrien Schutz im Nachbarland, vor allem in der Region um Antakya.

Jetzt hat das Beben nicht nur die Türkei getroffen. Sondern auch Syrien. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) rechnet damit, dass dort fast 5,4 Millionen Menschen Unterstützung bei der Suche nach Unterkünften benötigen.

Seit dem ersten Tag im Krisengebiet: die Helfer Selcuk Coliskan (links) und Murat Albayrak.
Seit dem ersten Tag im Krisengebiet: die Helfer Selcuk Coliskan (links) und Murat Albayrak. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Auch in Syrien sind Tausende unter Schutt gestorben. Doch Hilfe kommt dort nur sehr mühsam an. Die Region im Westen des Landes ist noch immer Gebiet von Islamisten und Rebellengruppen. Die Türkei hat bisher offenbar bis auf einen einzigen Grenzübergang keine Zugänge für Helfer geöffnet.

Lütfi rettete noch den Ofen aus dem Haus. Der steht nun in ihrem Zelt

Lütfi und Widad und ihre fünf Kinder hatten sich im türkischen Antakya ein kleines Haus aufgebaut. Stein für Stein. Immer wenn sie etwas Geld hatten, bauten sie weiter. Nun aber liegt auch ihr Haus in Schutt.

Nur ein paar Meter entfernt von ihrem kaputten Haus haben sie ein Zelt aufgebaut, gegenüber auf der anderen Straßenseite. Lütfi rettete noch den Ofen aus dem Haus, den sie jetzt im Zelt aufgebaut haben, das Abzugsrohr ragt aus dem Eingang. Lange werden sie hier nicht bleiben können. Wieder muss die Familie fliehen. Wohin, wissen sie nicht.