Berlin. In Berlin tötete ein Polizist vor drei Jahren einen Flüchtling. Der Staatsanwalt stellte das Verfahren ein. Doch offenbar zu Unrecht.

Der Mann war aufgebracht, und er hatte allen Grund dazu. Denn seine erst sechs Jahre alte Tochter war Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden – und als Tatverdächtigen hatte die Polizei ausgerechnet einen Mitbewohner aus seiner damaligen Wohnstätte, einem Flüchtlingsheim an der Kruppstraße in Berlin-Moabit, ermittelt.

Als Hussam Hussein, so der Name des aufgebrachten Vaters, den bereits mit Handschellen gesicherten Peiniger seiner Tochter bei dessen Festnahme vor dem Flüchtlingsheim in einem Streifenwagen sah, ließ er seiner Wut freien Lauf. Er stürmte auf den Mann zu. Dann zischten drei Pistolengeschosse durch die Luft. Eines davon traf ihn tödlich. Hussam Hussein wurde 29 Jahre alt. Seine damals sechs Jahre alte Tochter musste von nun an ohne ihn aufwachsen.

Das tragische Ereignis liegt fast drei Jahre zurück. Nun hat es ein Nachspiel, das schwerwiegende Folgen haben könnte. Für den Polizisten, der den tödlichen Schuss abgab. Ein zweifelhaftes Licht wirft der Fall aber auch auf die Arbeit der Berliner Staatsanwaltschaft.

Flüchtling erschossen – Schusswaffeneinsatz rechtmäßig?

Denn laut einem Bericht des ARD-Magazins „Kontraste“ nahm die Staatsanwaltschaft nach der Tötung an jenem 27. September 2016 zwar zunächst vorschriftsgemäß ihre Ermittlungen auf. Bereits im Mai 2017 wurde der Fall aber zu den Akten gelegt.

Der Todesschütze der Polizei habe sich nichts zuschulden kommen lassen, hieß es. Denn Hussam Hussein sei auf den Peiniger seiner Tochter mit einem Messer losgestürmt. Dieser sei in akuter Gefahr gewesen. Sämtliche Versuche, Hussein mit anderen Mitteln aufzuhalten, seien erfolglos geblieben. Der Einsatz der Schusswaffe sei als letzte Möglichkeit, eine Gewalttat abzuhalten, rechtskonform gewesen.

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft war der Fall damit erledigt. Im Mai 2017 stellte die Behörde die Ermittlungen ein.

Kammergericht ordnete Wiederaufnahme des Verfahrens an

Zu Unrecht. So jedenfalls sah es die Witwe des getöteten Flüchtlings. Beim Berliner Kammergericht strengte sie über ihren Rechtsbeistand ein sogenanntes Klageerzwingungsverfahren an. Mit Erfolg. Wie eine Sprecherin des Kammergerichts der „Berliner Morgenpost“ bestätigte, wies das Gericht die Staatsanwaltschaft am 27. April 2018 an, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Begründung: Der Tathergang sei nicht umfassend aufgeklärt worden.

Die Staatsanwalt dürfte die Entscheidung als schallende Ohrfeige empfunden haben. Denn wie es in Justizkreisen heißt, wird ein Klageerzwingungsverfahren nur äußerst selten angestrengt. Dass das Gericht eine Staatsanwaltschaft anweise, ein bereits eingestelltes Verfahren wieder aufzunehmen, sei eine absolute Ausnahme, heißt es.

Die Registrierungsstelle für Flüchtlinge im ehemaligen Gefängnis in der Kruppstraße in Berlin.
Die Registrierungsstelle für Flüchtlinge im ehemaligen Gefängnis in der Kruppstraße in Berlin. © imago/Thomas Lebie | imago stock&people

Der Berliner Rechtsanwalt Ulrich von Klinggräff, der die Witwe des Erschossenen vertritt, äußerte im ARD-Magazin „Kontraste“ Zweifel an der Ermittlungsarbeit der Mordkommission des Landeskriminalamtes. Es sei offensichtlich von vorneherein das Interesse der Polizei gewesen, „am Ende zu einer Einstellung des Verfahrens zu kommen“.

Hatte Hussam Hussein ein Messer?

Entscheidend bei dem nun wieder aufgenommenen Verfahren dürfte die Frage sein, ob Hussam Hussein tatsächlich ein Messer bei sich führte.

Ja, sagte der Beamte, der den tödlichen Schuss auf den Iraker abgegeben hat. Nein, sagen dagegen etliche andere Zeugen. „Ich habe kein Messer gesehen, und ich stand ja neben ihm. Niemand von uns hat ein Messer gesehen. Der hatte einfach keins“, sagte ein Zeuge in „Kontraste“, der angab, den Vorfall beobachtet zu haben.

Auch ein nach eigener Aussage an dem Einsatz beteiligter Polizist sagte in dem TV-Bericht, Hussein sei unbewaffnet gewesen. „Meine Kollegen und ich glauben, nein, wir wissen, dass wir alle kein Messer gesehen haben. Aus unserer Sicht war der Mann nicht bewaffnet“, sagte der Beamte, der anonym bleiben wollte, laut TV-Bericht.

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Der Beamte, der den tödlichen Schuss abgab, hatte dagegen versichert, Hussam Hussein habe, als der auf seinen sexuell übergriffig gewordenen Mitbewohner losstürmte, ein Messer in der Hand gehalten. Tatsächlich wurde ein Messer sogar zu den Beweismitteln genommen.

Merkwürdig nur: Sichergestellt wurde die Stichwaffe ausgerechnet von dem Todesschützen. Merkwürdig auch laut „Kontraste“-Bericht: Auf dem Messer wurden weder DNA-Spuren noch Fingerabdrücke von Hussam Hussein gefunden, obwohl dieser keine Handschuhe getragen habe.

Verfahren wird wegen Verdachts des Totschlags geführt

Die Polizei wollte sich auf Anfrage der „Berliner Morgenpost“ mit Verweis auf das laufende Ermittlungsverfahren nicht zu dem Bericht äußern. Die Staatsanwaltschaft bestätigte, dass das Verfahren wieder aufgenommen worden sei. Die Ermittlungen dauerten an.

Zeugen, die bekundet hatten, kein Messer bei dem Getöteten wahrgenommen zu haben, seien auch schon vernommen worden, bevor das Verfahren im Mai 2017 zunächst eingestellt wurde.

An dem Messer seien lediglich „Misch-DNA-Spuren“ feststellbar gewesen. In dem wieder aufgenommenen Verfahren gegen den Polizisten, der den tödlichen Schuss abgegeben haben soll, sowie gegen zwei weitere Polizisten, die ebenfalls Schüsse abgegeben haben sollen, werde wegen des Verdachts des Totschlags ermittelt.

Fälle von mutmaßlich rechtswidriger Polizeigewalt gibt es in Deutschland offenbar häufiger als bisher bekannt. Eine noch unveröffentlichte Studie der Universität Bochum ergab laut „Kontraste“ und dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“, dass es jährlich mindestens 12.000 solcher Übergriffe durch Polizeibeamte gibt. Das wären fünf Mal mehr als zur Anzeige gebracht wurden.

• Dieser Text erschien zunächst auf morgenpost.de