Odessa. Roman Shvartcman überlebte den Holocaust. Jetzt bedrohen die damaligen Befreier das jüdische Leben in Odessa. Viele fliehen nun erneut.

Als Roman Shvartcman in die Chabad-Synagoge kommt, ist sie an diesem Sonntag bereits gut gefüllt. Die jüdische Gemeinde feiert heute das Erntedankfest Schawout. Die Männer sitzen in den alten Holzstühlen oder lehnen an den Bücherregalen im Hauptraum mit den beiden prächtigen Kronleuchtern und den beiden siebenarmigen Leuchtern an der Stirnseite und lesen in der Tora, viele haben sich den weiß-blauen Gebetsschal um die Schultern oder auf den Kopf gelegt.

Ihr leises Murmeln schwillt manchmal zu Gesang an. Roman Shvartcman nickt seinen Bekannten zu. Er ist froh, dass es heute so voll ist. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine haben wieder einmal schwierige Zeiten für die Juden von Odessa begonnen.

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Draußen vor der Tür des unscheinbaren Gotteshauses, das Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurde, steht Yitzhak Fawell Benjamin, in der Hand eine Zigarette, auf dem Kopf eine grüne Schiebermütze. Er unterhält sich mit Freunden, einer hat eine Flasche Schnaps und Kuchen mitgebracht, für die Feier nach dem Gottesdienst.

Vor dem Ukraine-Krieg hatte sich die jüdische Gemeinde etwas erholt

Benjamin sagt, dass es auch in der Ukraine Antisemitismus gegeben haben und noch immer gebe. „Aber das war kein großes gesellschaftliches Phänomen. Das gab es in Städten, in denen bestimmte rechte Bewegungen stark sind.“ Er zuckt mit den Schultern. „Antisemitismus gibt es ja überall.“

Dann erzählt Benjamin, wie sich die jüdische Gemeinde Odessas in den vergangenen Jahren nach einer langen Zeit des Niedergangs wieder erholt hat. „Unser Rabbiner Awraam Wolff hat es geschafft, ihr wieder neues Leben einzuhauchen“, sagt der Mittvierziger. Aus vielen Teilen der Ukraine seien Juden nach Odessa gezogen, die Gemeinde sei wieder auf gut 40.000 Mitglieder angeschwollen.

Der Rabbiner Awraam Wolf von der Chabad-Synagoge in Odessa trifft Gläubige in der Altstadt von Odessa.
Der Rabbiner Awraam Wolf von der Chabad-Synagoge in Odessa trifft Gläubige in der Altstadt von Odessa. © Funke Foto Service | Reto Klar

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Ukraine-Krieg: Viele Juden haben Odessa bereits verlassen

Neben der Chabad-Synagoge wird noch eine weitere größere Synagoge gut besucht. Es gibt drei jüdische Schulen, einen jüdischen Kindergarten. „Aber in den vergangenen Monaten haben viele Juden Odessa verlassen“, sagt Benjamin.

Die Hafenstadt am Schwarzen Meer war einmal eine Metropole des jüdischen Lebens. Schon kurz nach der Gründung der Stadt Ende des 18. Jahrhunderts siedelten sich hier viele Juden an, sie prägten rasch das Geschäftsleben der Stadt. Odessa war immer eine multiethnische und multireligiöse Stadt, ein brodelnder und liberaler Schmelztiegel.

„Leben wie Gott in Odessa“ – so ging einst ein jiddisches Sprichwort

„Lebe vi Got in Odes!“ wurde zu einem Sprichwort, einem Segenswunsch im Jiddischen. „Leben wie Gott in Odessa.“ Wie in so vielen anderen europäischen Ländern ergoss sich aber auch in Odessa immer wieder Hass über die dort lebenden Juden, im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es mehrere Pogrome.

Trotzdem gedieh das jüdische Leben weiter, vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Odessa 200.000 Juden, sie stellten ein Drittel der Bevölkerung. Dann brach das grauenhafteste Kapitel der jüdischen Geschichte an. Roman Shvartcman hat es als Kind durchleiden müssen. Shvartcman ist ein kleiner weißhaariger Mann mit freundlichen und wachen Augen. An seinem Revers trägt er ein graues Abzeichen. Es ist das Abzeichen der Vereinigung der ehemaligen Gefangenen in Ghettos und Konzentrationslagern. Der 85-Jährige ist der stellvertretende Vorsitzende dieser Organisation. Er stammt aus Berschad in der Oblast Winnyzja rund 300 Kilometer nördlich von Odessa.

Odessa: Roman Shvartcman überlebte den Holocaust

Berschad ist eine Kleinstadt. Als Roman Shvartcman hier 1937 zur Welt kam, war sie ein Schtetl und ein Zentrum jüdischer Kultur. 1941 nahmen deutsche und rumänische Truppen die Stadt ein. „Wir waren eine große Familie, ich hatte fünf Brüder und drei Schwestern. Mein Vater wurde damals von der Sowjetregierung eingezogen“, erzählt er.

Als die rumänischen Faschisten die Stadt einnehmen, will die Mutter mit den Kindern fliehen, so wie die anderen jüdischen Bewohner Berschads. Sie kommen nicht weit. „Unsere Kolonne wurde immer wieder von deutschen Messerschmitts bombardiert“, erinnert sich Shvartcman. Schließlich müssen sie umkehren.

Odessa: Holocaust-Überlebender über russischen Angriffskrieg

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    Holocaust: Deutsche errichteten Ghettos in der Ukraine

    Die Deutschen errichten in Berschad im Juli ein Ghetto. Tausende Juden werden dort zusammengepfercht. Kurze Zeit später übernehmen die Rumänen das Kommando. „Die haben uns noch schlechter behandelt als die Deutschen“, sagt Shvartcman.

    Ein Martyrium bricht für die eingesperrten Menschen an. Sie ernähren sich nur von dem, was mitleidige Ukrainer über den Stacheldrahtzaun werfen, oder von Kartoffelschalen und dem Wasser, in dem das Fleisch für die Kantine der rumänischen Besatzer gewaschen wird. „Das haben die Köchinnen uns Kindern manchmal gegeben.“ Hunderte sterben. Woche für Woche.

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    Tausende Juden starben bei Massaker in Odessa

    Im Süden wüten die Rumänen noch schlimmer. In Odessa ermorden sie nach der Einnahme der Stadt bei einem Massaker im Oktober bis zu 34.000 Juden. Die restlichen Jüdinnen und Juden werden in Konzentrationslager verschleppt.

    In Berschad stirbt Shvartcmans Bruder Josef im Januar 1942. Der 16-Jährige wird bei einem Arbeitseinsatz erschossen, weil die Bewacher glauben, er habe einen Fluchtversuch unternommen. Ein anderer Bruder, Isaac, wird zum Krüppel geprügelt, nachdem er versucht hat, Pferdefutter zu stehlen. „Das war unsere Existenz im Ghetto. Jeden Tag nur Hunger und Schläge“, erzählt der alte Mann. Das Leiden endet am 25. März 1944, als die Rote Armee Berschad befreit. Im Zweiten Weltkrieg werden bis zu einer halben Million ukrainischer Juden ermordet.

    Russisches Militär: Nachfahren der Befreier von 1944 treiben die Juden in die Flucht

    1954 nimmt Shvartcman ein Studium an der Universität von Odessa auf. Erneut beginnt das jüdische Leben sich dort zu entfalten und erlebt doch immer wieder Verwerfungen. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 verlassen viele Juden das Land, manche gehen nach Deutschland, viele nach Israel. Shvartcman bleibt. „Wir haben die Freiheit genossen, die wir in der Sowjetunion nicht hatten.“ Er erlebt die neue Blütezeit der jüdischen Gemeinde in den vergangenen zehn Jahren.

    Der Kriegsausbruch im Februar 2022 jedoch hat einen erneuten tiefen Einschnitt für die Juden von Odessa markiert. „Die Invasion der russischen Faschisten in der Ukraine hat die jüdische Gemeinschaft gezwungen, massenhaft das Land zu verlassen. Die Menschen haben nicht vergessen, was vor achtzig Jahren geschah und sie haben Angst vor dem, was die russischen Soldaten in der Ukraine anrichten“, sagt Shvartcman.

    Von den schätzungsweise 40.000 jüdische Menschen, die in Odessa bis zum russischen Überfall lebten, hat nahezu die Hälfte hat die Stadt verlassen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder.

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    Ukraine-Krieg: Juden aus Odessa finden Zuflucht in Deutschland

    Viele von ihnen haben Zuflucht in Deutschland gefunden. Die Berliner Chabad-Gemeinde hatte bereits Anfang März die Ausreise von über hundert Kindern aus dem jüdischen Waisenhaus in Odessa organisiert, kurze Zeit später noch einmal die Rettung von 120 weiteren Kindern und Frauen.

    Es ist eine merkwürdige Ironie der Geschichte: Die Nachfahren der Befreier von 1944 treiben Juden in die Flucht in das Land der Nachfahren der Täter von damals. Was Shvartcman Putin sagen würde, wenn der vor ihm säße und ihm erzählen würde, dass er die Ukraine von Nazis befreien wolle? „Ich würde ihn fragen, ob er sie nicht mehr alle hat. Er will die Ukraine zerstören. Was Putin macht, ähnelt dem, was die Nazis vor achtzig Jahren getan haben“, sagt der 85-Jährige.

    Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.