Berlin. Wladimir Putin droht mit Atombomben und kündigt den letzten Kontrollvertrag. Welche Staaten bekommen Atomwaffen, wer hat sie schon?

Es könnte der Startschuss für ein neues atomares Wettrüsten weltweit sein: Russland hat den letzten noch gültigen Vertrag zur nuklearen Rüstungskontrolle ausgesetzt. Das von Präsident Wladimir Putin verkündete Einfrieren des New-Start-Abkommens mit den USA ist ein weiterer Schlag Moskaus gegen die globale Sicherheitsordnung. Putins Vertrauter Dmitri Medwedew legte nach mit der wiederholten Drohung, im Ukrainekrieg notfalls Atombomben einzusetzen.

Der fortgesetzte Tabubruch des Kreml bedroht nicht nur Europa. Er betrifft auch nicht nur die beiden Atom-Supermächte. Als Folge könnte jetzt weltweit eine neue Rüstungsspirale beginnen. Wer hat Atomraketen, wer will welche? Warum steuert die Welt auf Atomkriegs-Gefahren zu, die schwerer beherrschbar sind als im Kalten Krieg?

"New-Start": Darum war das Abkommen so wichtig

Der Abrüstungsvertrag von 2010 ist das einzige noch verbliebene große Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland. Der Vertrag begrenzt die strategischen Atomwaffenarsenale beider Länder auf je 800 Trägersysteme (Raketen, Bomber) und je 1550 einsatzbereite Sprengköpfe. Washington und Moskau tauschten Informationen aus und erlaubten jährlich 18 Inspektionsbesuche der Gegenseite.

Der Quasi-Ausstieg demontiere die gesamte Rüstungskontrollarchitektur, das mache „die Welt gefährlicher“, sagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Der Sicherheitsforscher Ulrich Kühn (Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg) nennt Putins Schritt „zutiefst unverantwortlich und gefährlich“. Kühn sagt: „Die Ära der bilateralen Nuklearwaffenkontrolle geht damit zu Ende. Die Welt steht vor einem neuen Zeitalter der Unsicherheit.“

Atomwaffen Supermächte: USA und Russland

Von den 12.700 Atom-Sprengköpfen weltweit sind 90 Prozent im Besitz von USA und Russland. Genug, um die gesamte Weltbevölkerung auszulöschen, viele Waffen übertreffen die Zerstörungskraft der 1945 auf Hiroshima abgeworfenen Atombombe um das zigfache. Russlands Reserven umfassen nach den jüngsten Daten des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri 5977 Sprengköpfe, davon sind 4477 im Arsenal verfügbar. Die USA haben 5428 Sprengköpfe, davon sind 3708 verfügbar.

Zentraler Pfeiler sind die strategischen Sprengköpfe für den offensiven Einsatz über weite Entfernungen und mit großer Zerstörungskraft, von denen Russland 2565 besitzt und die USA 3508 – etwa jeweils die Hälfte wird in Einsatzbereitschaft gehalten. Dazu kommen taktische Atomwaffen für den begrenzten Einsatz auf dem Gefechtsfeld, 1912 in Russland Arsenal und nur 200 in den USA. In Deutschland sind etwa 20 solcher US-Atomwaffen stationiert.

Bislang gilt für die beiden Atom-Supermächte strategische Stabilität durch gegenseitige Abschreckung: Wer als Erster angreift, stirbt als Zweiter. Das Ende von New Start könnte nun aber zur Verdopplung der strategischen Arsenale führen, fürchten amerikanische Sicherheitsforscher. Die USA und Russland modernisieren sowieso schon mit großen finanziellen und technischen Anstrengungen ihre Atom-Bestände. Auch atomar bestückbare Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von 500 bis 5000 Kilometern gehören dazu, auf die Moskau und Washington bis zur beiderseitigen Kündigung des INF-Vertrags 2019 verzichtet hatten – Russlands Iskander-Raketen bedrohen schon unmittelbar Deutschland und Europa.

China: Die künftige Atom-Supermacht

Verglichen mit Russland und den USA liegt China mit seinen etwa 350 Atomsprengköpfen weit zurück. Aber sein Arsenal wächst immer schneller, mehr als die Hälfte der Bomben können auf Langstreckenraketen auch die USA erreichen. Das US-Verteidigungsministerium beobachtet den Bau von 280 neuen Atomraketen-Silos in China und schätzt, dass das Land 2030 schon tausend Sprengköpfe besitzen wird. „China könnte bald die dritte nukleare Supermacht sein“, heißt es im gerade vorgelegten Sicherheitsreport namhafter Forschungsinstitute für die Münchner Sicherheitskonferenz.

Bei einer Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau präsentiert die russische Armee ballistische RS-24 Yars-Raketen, mit denen im Ernstfall Atomsprengköpfe ins Ziel getragen würden.
Bei einer Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau präsentiert die russische Armee ballistische RS-24 Yars-Raketen, mit denen im Ernstfall Atomsprengköpfe ins Ziel getragen würden. © dpa | Alexander Zemlianichenko

Die US-Regierung warnt in ihrem jüngsten Bericht zur Atomstrategie, die Vereinigten Staaten stünden absehbar zum ersten Mal in ihrer Geschichte zwei großen Atommächten als strategische Konkurrenten und potentielle Gegner gegenüber. Die Folgen beunruhigen US-Militärexperten, Hardliner fordern eine massive Ausweitung des amerikanischen Atomarsenals – denn eine Dreierkonstellation sei im nuklearen Risikokalkül viel schwieriger zu handhaben als die von zwei Rivalen. Das Problem: China zeigt bisher keinerlei Absicht, sich in Rüstungskontroll-Abkommen einbinden zu lassen, das Aussetzen des New-Start-Vertrags dürfte Peking nun darin bestärken. Nach dem Ukraine-Krieg wird die Volksrepublik die nukleare Aufrüstung eher noch beschleunigen.

Sechs weitere Staaten haben Atomwaffen: Frankreich, England & Co.

Zu den fünf offiziellen Atommächten laut Atomwaffensperrvertrag zählen auch noch Frankreich mit 290 Atomsprengköpfen und Großbritannien mit 225 Sprengköpfen. Doch längst verfügen weitere Staaten, die dem Sperrvertrag nie beigetreten sind, über Nuklearwaffen: Israels Arsenal wird auf 90 Sprengköpfe geschätzt. Indien besitzt 160, sein Erzrivale Pakistan 165. Alle drei beschränken sich auf Atomwaffen mittlerer Reichweite von wenigen tausend Kilometern. Nordkorea verfügt wohl über etwa 20 Sprengköpfe, auch auf Langstreckenraketen.

Das neue Risiko: Wer aktuell an Atomwaffen arbeitet

Der Ukraine-Krieg, Putins Atomtabu-Bruch und die vorsichtige Reaktion des Westens darauf dürften in vielen Ländern Pläne für eine Atombewaffnung bestärken oder auslösen. Entsprechende Forderungen gibt es in Südkorea und – noch verhalten – in Japan. Beide fürchten Chinas wachsende Dominanz und die Drohgebärden Nordkoreas; zugleich hat das Vertrauen in den Schutzschirm der USA gelitten. Im schlimmsten Fall wird Süd- und Ostasien zum neuen atomaren Risiko-Gebiet, wo sechs teils miteinander verfeindete Staaten die Bombe besitzen. Und im Nahen Osten droht ein „nukleares Wettrennen“, warnt der Münchner Sicherheitsreport. Der Griff Irans nach der Atombombe dürfte seinen Erzrivalen Saudi-Arabien dazu bringen, ebenfalls nuklear aufzurüsten.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Nach dem Höhepunkt des Kalten Krieges 1986, als West und Ost über 70 000 Atomsprengköpfe horteten, ist die Zahl der Atomwaffen bis heute stetig zurückgegangen. Dieser Fortschritt kommt an sein Ende. Die Sipri-Friedensforscher warnen, ohne sofortige und konkrete Abrüstungsschritte der neun Atomstaaten könnte der globale Bestand nuklearer Waffen erstmals wieder größer werden. Aber noch ist es möglich, dass Russland und die USA eine Fortsetzung des ausgesetzten New-Start-Vertrags vereinbaren, der offiziell erst 2026 ausläuft – beide Seiten wollen vorerst die Obergrenzen weiter einhalten. US-Präsident Joe Biden setzt sich vehement für ein neues Abkommen ein. Doch wenn die Kontrolle nicht gerettet werden kann, sagt US-Chefverhandlerin Rose Gottemoeller, „dann sind wir wirklich mitten in einem neuen Rüstungswettlauf”.