London. Boris Johnson galt bei Amtsantritt als Überflieger. Nicht nur wegen des Brexits hinterlässt der britische Premier einen Scherbenhaufen.

Die Amtszeit des einstigen Superstars in Downing Street 10 hat sich am Ende einfach totgelaufen. In der Sommerpause war Boris Johnson – immerhin noch amtierender Premierminister – kaum zu sehen. Wenn ihn die Presse auf die vielen Krisen ansprach, die auf das Land zukommen, winkte er ab: Das alles sei Sache seines Nachfolgers.

Am kommenden Montag wird das Ergebnis des Mitgliederentscheids der Konservativen bekanntgegeben. Nach letzten Umfragen zieht Liz Truss in Downing Street ein – sie liegt deutlich vor Rishi Sunak.

Irgendwie hatte Johnson keine Lust mehr aufs Regieren. Das ist in gewisser Hinsicht auch stimmig. Johnson war getrieben vor Ehrgeiz – das eigentliche Geschäft des Regierens schien ihm weit weniger zu gefallen als die Tatsache, dass er sich Premierminister nennen konnte.

Blickt man zurück auf seine gut dreijährige Amtszeit, stößt man auf unzählige Beispiele für diese Haltung: Johnson regierte selbstherrlich und tat immer genau das, was ihm am meisten nützte. Seine Regierungsjahre waren geprägt von Regelbrüchen, Inkompetenz und Schlendrian.

Johnson feierte im Januar 2020 den Brexit als „Anbruch einer neuen Ära“

Es fing schon an mit einem unerhörten Schritt: Kurz nach seiner Übernahme der Regierungsgeschäfte im Spätsommer 2019 machte sich Johnson daran, das Parlament zu suspendieren. Er wollte dem Unterhaus damit die Möglichkeit nehmen, seinen Brexit-Deal zu torpedieren. Das oberste Gericht urteilte später: Die Suspendierung war verfassungswidrig.

Seinen Brexit brachte Johnson dennoch in trockene Tücher. Im Januar 2020 feierte er den vollzogenen EU-Austritt, es sei der „Anbruch einer neuen Ära“, sagte er. Aber nur wenige Monate später kam die Pandemie, wie der Rest der Welt stürzte Großbritannien in eine tiefe Krise.

Corona-Lockdown kam trotz Warnungen erst nach langem Zögern

Allerdings konnte Corona hier weit schlimmer wüten als in den meisten anderen Ländern. Trotz der Warnungen von Gesundheitsexperten wurde der Lockdown erst nach langem Zögern verhängt. Ein parlamentarischer Ausschuss kam im Oktober 2021 zum Schluss: Die Entscheidungen der Regierung in den ersten Wochen der Pandemie zählen zu den „schwersten gesundheitspolitischen Versagen, die Großbritannien je erlebt hat“.

Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns in den folgenden zwei Jahren kamen Johnson ein Stück weit gelegen: Sie verdeckten die Konsequenzen des Brexit. Denn anders als es die EU-Kritiker in London versprochen hatten, brachte der Austritt aus dem größten Handelsblock der Welt keine neue Prosperität und Freiheit, sondern nur zusätzliche Bürokratie, Personalmangel und stockende Lieferketten.

Umfrage: Nur noch 36 Prozent der Briten meinen, dass der Brexit richtig war

Im Januar schätzte der Rechnungshof Office for Budget Responsibility, dass der Brexit die gesamte Wirtschaftsleistung um vier Prozent stutzen würde – das entspricht etwa 100 Milliarden Pfund. Viele Briten sind denn auch bitter enttäuscht: Nach einer neuen Umfrage sind nur noch 36 Prozent der Briten der Meinung, dass der Brexit die richtige Entscheidung war.

Bezeichnenderweise war es erneut ein Regelverstoß, der den Niedergang Johnsons einleitete: Die Presse enthüllte, dass in Johnsons Amtssitz während der Lockdowns ausgiebig gefeiert wurde, mit Brötchen, Wein und Champagner. Über ein Dutzend solcher Events zählte man zum Schluss, und Johnson geriet immer stärker in Erklärungsnot. Er stritt ab, spielte herunter, wurde am Ende dennoch von der Polizei abgemahnt – eine Premiere für einen britischen Regierungschef.

Beförderung eines Abgeordneten, dem sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wurde

Hing seine Karriere damals bereits an einem seidenen Faden, war es ein weiterer Skandal, der ihn im Juli schließlich zu Fall brachte: Johnson hatte einen Abgeordneten befördert, obwohl er wusste, dass ihm sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wurde.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dabei hatte es in den Monaten vor seiner Resignation noch zeitweise so ausgesehen, als sitze er wieder sicherer im Sattel. Als Russland in der Ukraine einmarschierte, konnte Johnson in jene Rolle schlüpfen, in der er sich sehen wollte: Der Staatsmann, der dem Aggressoren die Stirn bietet. Großbritannien trat als einer der engsten Verbündeten der Ukraine auf, versorgte die Streitkräfte mit Waffen und stand Wolodymyr Selenskyj auch rhetorisch bei. Sein Land habe keinen engeren Verbündeten als Großbritannien, bestätigte auch dieser.

Zu Hause in Großbritannien sieht es ganz anders aus. Wenn Johnson am Montag die Downing Street räumt, werden ihm die wenigsten Briten nachtrauern. Eine neuere Umfrage, die nach dem schlechtesten Premierminister seit dem Zweiten Weltkrieg suchte, hatte einen klaren Sieger: Boris Johnson.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.