Berlin. Die Sozialdemokraten legen bei der Bundestagswahl deutlich zu. Olaf Scholz will jetzt versuchen, die FDP in ein Ampelbündnis zu lotsen.

Ein Riesenaufschrei geht durch das völlig überfüllte Foyer im Willy-Brandt-Haus. Wie ein Torschrei im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft. Wo man auch hinschaut: ein hüpfendes Meer von in die Höhe gehaltenen klatschenden Händen. Die SPD-Anhänger feiern sich, ihre Partei – und vor allem ihren Kanzlerkandidaten Olaf Scholz.

Berlin, SPD-Parteizentrale, 18 Uhr. Erste Prognose: die früheste Vorahnung eines Erfolges bei der Bundestagswahl. Sekt oder Selters, das ist nicht die Frage. Nicht für die SPD. Sekt, was sonst?

SPD sieht nach Bundestagswahl klaren Regierungsauftrag

Generalsekretär Lars Klingbeil geht mit der Prognose gleich in die Bütt, genauer gesagt: vor die Kameras erst des ZDF und danach bei der ARD. „Die SPD ist wieder da“, ruft Klingbeil aus. Die Wahl sei ein Erfolg. „Wir wussten immer, dass es ein enges Rennen wird.“ Ganz klar, seine Partei habe den Regierungsauftrag.

„Die Menschen wollen einen Kanzler Olaf Scholz“, beteuert der Generalsekretär immer wieder. Scholz selbst lässt sich Zeit. Er will erst noch abwarten und lässt auch seinen Unions-Konkurrenten Armin Laschet mit einem Statement vorgehen.

Die Sozialdemokraten kommen laut den ersten Hochrechnungen auf 25 bis 26 Prozent. Damit sind die Genossen einerseits auf dem Stand von 2013. Mit Peer Steinbrück als Spitzenkandidat war man damals auf 25,7 Prozent der Stimmen gekommen. Andererseits: Eine Partei definiert sich nicht allein durch das nackte Ergebnis.

Es zählt – gerade psychologisch – noch mehr der Vergleich zur direkten Konkurrenz, zu den Unionsparteien. Und es wäre erst das dritte Mal nach 1972 und 1998 in der Geschichte der Bundesrepublik, dass die Sozialdemokraten auf Bundesebene auf Platz eins landen. Einmal, 2002, erzielten beide Parteien exakt das gleiche Ergebnis.

Olaf Scholz freut sich über das gute SPD-Ergebnis.
Olaf Scholz freut sich über das gute SPD-Ergebnis. © dpa | Wolfgang Kumm

Die Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter Borjans verbringen den Nachmittag in ihren Büros in der fünften Etage. Um 17 Uhr sitzt das SPD-Präsidium im Helmut-Schmidt-Saal in der sechsten Etage mit Kanzlerkandidat Olaf Scholz zusammen. Erst ergreifen die Vorsitzenden das Wort, dann Scholz. Er bedankt sich bei allen für den Wahlkampf – und macht Mut. Er sei guter Dinge, dass seine SPD sogar erste werde. Die Linie ist klar: Wir sind die Sieger. Die SPD hat den Führungsanspruch.

In so einer Situation greift eine ganz simple Logik. Die SPD hatte mehrere Prozentpunkte dazu gewonnen, die Union etwa in der gleichen Größenordnung verloren und ihr mit Abstand schlechtestes Wahlergebnis aller Zeiten errungen, besser gesagt: erlitten. Schatzmeister Dietmar Nietan sagt, noch vor zehn Wochen wäre die Frage erster oder knapp Zweiter noch eine „Luxusdiskussion“ gewesen.

SPD auch erfolgreich in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern

Eine halbe Stunde später ist dann der Parteivorstand dran: Hier wird dann nur noch die vorab gefundene Linie vorgegeben – und die Sprachregelung, die Klingbeil hinterher im Fernsehen verkünden wird. In der ARD führt die auch in der ersten Hochrechnung, beim ZDF zur gleichen Zeit sogar deutlich. Wobei die Union aufgrund von Überhangmandaten womöglich die stärkste Fraktion wird.

Ein Stimmungsaufheller ist, dass die SPD auch bei den gleichzeitigen Landtagswahlen in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern erfolgreich abgeschnitten hat, vor allem Manuela Schwesig im Norden.

Auf Bundesebene ist das erwartet knappe Finale geworden, beide Volksparteien nahe beieinander. Noch ist das Eis dünn, erst die Hochrechnungen werden im Verlauf des Abends Gewissheit bringen; ganz zu schweigen von der arg komplizierten Mandatsumrechnung, für die selbst der Wahlleiter Stunden brauchen wird.

Bundestagswahl: Dritter Partner ist schier alternativlos

Auch als Zweitplatzierter würde Scholz versuchen, eine Koalition zu bilden. Als Wahlsieger stünde ihm traditionell das Initiativrecht zu. Für Rot-Grün allein – die Idealvorstellung von Scholz – reicht es nicht aus. Zusammen kommen die Wunschpartner auf 41,42 Prozent – im Prinzip das Potenzial, das sich auch im Wahlkampf schon seit Monaten abzeichnete; mit dem nicht unwesentlichen Unterschied, dass die Grünen lange Zeit die Nase vorn hatten. Lesen Sie auch:Wie ein Zweitplatzierter Bundeskanzler werden kann

Ein dritter Partner ist nötig, nach Lage der Dinge die FDP – und schier alternativlos. Denn: Die Linkspartei schwächelt bedenklich, die hohe Wahlbeteiligung setzte ihr offenbar zu, im Laufe des langen Wahlabends bangt sie – hart an der Durstgrenze von fünf Prozent – um ihren Einzug in den Bundestag. Für sie wird diese Wahl zur Zitterpartie.

Welch eine Ironie, die von den Konservativen geschürte Angst vor einem Linksbündnis – das Worst-Case-Szenario – hält womöglich der Realität des Wahlabends nicht stand.

Rechnerisch zweifelsfrei ist nur die Ampel, auf Landesebene ein durchaus erfolgreiches Bündnis in Rheinland-Pfalz, aber im Bund wäre das eine neue Konstellation. Vor allem in der Finanzpolitik fallen Differenzen ins Gewicht. Die FDP will keine Steuererhöhungen mittragen, wohl aber – die Kompromisslinie – höhere Schulden…

Um Grüne und FDP buhlen aber auch die Unionsparteien. Scholz hat mitnichten die freie Partnerwahl. Es zeichnet sich sogar – auch das wurde vielfach vorausgesagt – eine ungewöhnlich schwierige Regierungsbildung ab.

Am Mittwoch wird die Fraktion ihren Vorsitzenden wählen

Wie geht es nun weiter? Am Dienstag trifft die neue Fraktion zusammen, am Mittwoch wählt sie ihren Vorsitzenden. Amtsinhaber Rolf Mützenich will eigentlich wieder antreten – und damit Fakten schaffen.

Begonnen hatte der Tag für Scholz am Morgen mit der Stimmabgabe in Potsdam, begleitet von seiner Frau Britta Ernst, der Brandenburger Bildungsministerin. Es ist selten, dass sich politisch gemeinsam zeigen. Pikanterweise ist Potsdam auch der Wahlbezirk von Annalena Baerbock, der Spitzenkandidatin der Grünen.

Hinter Scholz liegt ein Achterbahn-Jahr. Monatelang landete die SPD in den Umfragen weit abgeschlagen hinter der Union und den Grünen. Erst im Sommer und insbesondere in den letzten Wochen hatte die SPD Boden gutgemacht und zur Union aufgeschlossen.

Für das rot-grüne Lager war es allerdings ein Nullsummenspiel: Was die Sozialdemokraten im August und September zulegten, das verloren wiederum die Grünen. Beide Parteien verhielten sich zueinander wie kommunizierende Röhren.