Berlin/Augustdorf. Die Regierung gibt Milliarden für die Bundeswehr frei. Doch noch immer herrscht Mangel: bei Waffen und Munition, Personal und Finanzen.

Es gibt einen Moment, der zeigt die Notlage der Bundeswehr wie unter einem Brennglas. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) steht Anfang Februar vor Soldatinnen und Soldaten in der Kaserne in Augustdorf. Hier trainiert das Panzerbataillon 203 an ihren „Leopard 2“. Doch nun müssen die Panzer weg, in die Ukraine. Nach einer langen Debatte sendet Deutschland das schwere Kampfgerät Richtung Kiew. Pistorius dankt der Truppe, spricht von Solidarität und einem wichtigen Signal, das von Augustdorf gesendet werde.

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Bald transportiert die Bundeswehr die Leopard-Panzer ab. Zurück in der Kaserne in Nordrhein-Westfalen bleibt ein Panzerbataillon ohne Panzer. Was wird aus den Übungen der Soldaten hier vor Ort? „Wir müssen kreativ sein“, sagt einer aus der Truppe.

Material in Milliarden-Wert geht an die Ukraine im Kampf gegen Russlands Invasion. So wie die Leopard-Kampfpanzer.
Material in Milliarden-Wert geht an die Ukraine im Kampf gegen Russlands Invasion. So wie die Leopard-Kampfpanzer. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Am heutigen Montag ist es ein Jahr her, da hielt Bundeskanzler Olaf Scholz seine Rede über die „Zeitenwende“ im Bundestag. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine war da gerade ein paar Tage alt. Nun dauert der Krieg ein Jahr, genauso lange ist Scholz‘ Rede her. Einerseits hat die Regierung 100-Milliarden an „Sondervermögen“ für das Militär freigegeben, neue Verpflichtungen an die Nato abgegeben - andererseits bleiben die Mängel: schleppende Waffenproduktionen, fehlendes Personal, Engpässe beim Geld.

Die Baustellen der Bundeswehr bleiben auch im zweiten Kriegsjahr bestehen. Der Chef des Bundeswehrverbands André Wüstner warnt nun: „Ob bei Material, Personal oder Infrastruktur, es braucht in dieser Legislaturperiode eine echte, in der Truppe spürbare Wende, sonst war’s das mit der Zeitenwende.“

Waffen: Hilfe für die Ukraine reißt Lücken im Materialbestand

32 Flakpanzer, Flugabwehrraketen vom Typ Iris-T, 14 Panzerhaubitzen, Munition, Lastwagen, Bergepanzer – es ist ein Auszug aus der Liste an Waffen und Material, das die Bundesregierung dem ukrainischen Militär bisher geliefert hat. Das aber reißt Lücken im Materialbestand der Bundeswehr. Die aktuelle Bedarfsliste der Bundeswehr ist riesig: Sturmgewehre, moderne Schützenpanzer vom Typ Puma, die den veralteten „Marder“ ablösen sollen, Kampfdrohnen, neue Schiffe für die Marine, aber auch persönliche Ausstattung für die Soldaten fehlt – Schutzwesten, Rucksäcke, Helme.

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Ende 2022, ein knappes Jahr nach Kriegsbeginn, ging durch die Fachausschüsse des Bundestags ein Großauftrag, rund zehn Milliarden Euro schwer: Tarnkappenjets vom Typ F-35. Es ist das erste Geld, das aus dem Sondervermögen abgerufen wird. Bisher allerdings blieb es der einzige Großauftrag. „Die Bestellung von Kriegsgerät und Munition läuft immer noch schleppend. Das ist fatal angesichts der gewachsenen Sicherheitsbedrohung durch den Ukraine-Krieg“, sagt CDU-Verteidigungsexperte Henning Otte unserer Redaktion.

Die Bundeswehr braucht Panzer: Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius zu Besuch beim Panzerbataillon 203 in Augustdorf in Nordrhein-Westfalen.
Die Bundeswehr braucht Panzer: Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius zu Besuch beim Panzerbataillon 203 in Augustdorf in Nordrhein-Westfalen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Rüstungsfirmen scharren mit den Füßen. Sie wittern gute Geschäfte angesichts der Aufrüstungspläne der Regierung. Doch die Firmen heben im Gespräch mit unserer Redaktion hervor, dass sie Rahmenverträge benötigen, die langfristig gelten müssten. Ohne Garantien gehe es nicht, zugleich könne man bei so teuren Herstellungskosten nicht in Vorleistung gehen. Das heißt: Rheinmetall und Co. warten auf Verträge über die Produktion etwa von Panzern. Doch die kommen nicht. „Das Beschaffungswesen der Bundeswehr ist weiter im Tiefschlaf. Es wird gebremst und blockiert“, sagt ein Industrievertreter.

Das Verteidigungsministerium weist darauf hin, dass rund 30 Milliarden Euro bereits verplant seien. „Wir sind an die Regularien und Gesetze gebunden und dürfen erst zahlen, wenn die Leistung erbracht ist.“ Das Problem: Das Beschaffungswesen der Bundeswehr ist träge, gebunden an komplexe Verfahren und Regularien. Sind Lücken ausgemacht, müssen Großaufträge durch das Parlament genehmigt werden, danach erst beginnen aufwendige Ausschreibungen. Die Produktion von High-Tech-Kriegsgerät ist ebenfalls enorm zeitaufwendig.

Finanzen: Experten beklagen zu wenig Geld, zu wenig Tempo, zu viel Bürokratie

Die von Scholz versprochen 100-Milliarden-Euro „Sondervermögen“ reichen nicht. Das jedenfalls bekräftigt nun Heeresinspekteur Alfons Mais. „Ich sehe einen sehr großen Druck, die Nachbeschaffungen jetzt mit größtem Tempo voranzubringen. Wir haben die Leopard-Panzer noch nicht abgegeben und überlegen richtigerweise schon, wie wir sie schnellstmöglich ersetzen können“, sagt Mais. „Bei der Panzerhaubitze und bei den Raketenwerfern hat es sehr lange gedauert, aber auch dort ist jetzt ein extrem hoher Druck drauf.“ Der Generalleutnant hebt hervor, dass für die genannten Großprojekte bei der Beschaffung mehr Geld notwendig ist. „Das Sondervermögen alleine wird dafür jedoch nicht reichen.“

Laut Bundeswehrverband kostet allein die Beschaffung von ausreichend Munition 20 bis 30 Milliarden Euro. Die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl, hatte unlängst eine Verdreifachung des Etats gefordert: auf 300 Milliarden Euro für die Truppe. Auch Verteidigungsminister Pistorius hält 100 Milliarden für zu wenig.

Fordert mehr Tempo bei Investitionen in die Bundeswehr: CDU-Verteidigungsexperte Henning Otte.
Fordert mehr Tempo bei Investitionen in die Bundeswehr: CDU-Verteidigungsexperte Henning Otte. © dpa | Christophe Gateau

Der CDU-Politiker Otte sieht Finanzlücken nicht nur im „Sondervermögen“, sondern auch im regulären Haushaltsplan. „Der Verteidigungsetat muss deutlich wachsen, von bisher 50 Milliarden auf mindestens 70 Milliarden Euro, damit das Zwei-Prozent-Ziel Deutschlands in der Nato überhaupt erreicht werden kann“, sagte Otte. Die Nato wünscht sich von allen Mitgliedsstaaten, dass jedes Land zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgibt. 2022 lag dieser Wert in Deutschland bei nur 1,5 Prozent. In einer Studie verwies das Institut der Deutschen Wirtschaft darauf, dass Deutschland dieses Ziel nur für die Jahre 2024 und 2025 erreichen werde, danach klaffen Milliarden-Lücken. Trotz Sonderetat.

Soldaten: Löst eine Aufstockung der Reserve die Personalnot der Truppe?

Die Bundeswehr hat ein Nachwuchsproblem – vor allem seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 kommen zu wenig neue Rekrutinnen und Rekruten. 2021 waren laut Bericht der Wehrbeauftragten allein bei Unteroffizieren und Offizieren 20.000 Stellen nicht besetzt. Jeder sechste Posten ist in der Truppe unbesetzt. Aktuell dienen gut 180.000 Soldatinnen und Soldaten. Zum Vergleich: 1990, zum Ende des Kalten Krieges, waren es noch gut 500.000.

Rückgrat der Truppe: Reservisten bei einer Übung  auf dem Standortübungsplatz Nienburg in Niedersachsen.
Rückgrat der Truppe: Reservisten bei einer Übung auf dem Standortübungsplatz Nienburg in Niedersachsen. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die Wehrbeauftragte Högl zeigt sich offen für die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Die FDP lehnt das ab – und schlägt stattdessen eine Stärkung der „Reserve“ vor. So würden Praktiker und Profis in die Bundeswehr eingebunden, heißt es in einem Papier der Partei. „Das reicht von IT-Experten, die zeitweise tätig sind, über mehr Menschen, die in neuen Heimatschutz-Einheiten militärische Kenntnisse und Reserve für Katastrophenschutz vorhalten, bis hin zu Top-Führungskräften, die ihr Know-how einbringen.“ Denkbar sei auch, dass sich Selbstständige oder Mitarbeiter von zivilen Unternehmen freiwillig verpflichteten, Wehrübungen oder andere Dienstleistungen, etwa in einer „Cyber-Reserve“ abzuleisten.

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Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner sagte, der Aufbau der Reserve sei „smarter und volkswirtschaftlich günstiger als die Wehrpflicht“. Auch im Verteidigungsministerium ist man skeptisch, dass eine Wehrpflicht leistbar sei – zu viel Personal und Ressourcen würde Rekrutierung, Unterbringung, Versorgung binden.